EZB: Was erwartet Europa mit der Zinswende?
Nach über sechs Jahren Nullzinspolitik könnte der Leitzins im Euroraum laut EZB-Chefin Christine Lagarde im Sommer wieder steigen. Eine erste Anhebung im Juli gilt nun als wahrscheinlich. Zur Abkehr von ihrer ultralockeren Geldpolitik will die EZB auch die Finanzierung von Staatsschulden stoppen. Kommentatoren sehen schwere Zeiten anbrechen.
Stürmische Zeiten stehen bevor
Große Unsicherheit der Anleger konstatiert Corriere del Ticino:
„Die derzeitige Nervosität der Märkte und der politischen und geldpolitischen Instanzen ist auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass die Zeit der durch Null- oder sogar Negativzinsen und das ständige 'Drucken' von neuem Geld 'gedopten' Wirtschaft zu Ende geht. Diese nach der Finanzkrise von 2008 eingeleiteten und während der Pandemie verstärkten Maßnahmen führten zu künstlichem Wachstum und veränderten das Verhalten der Wirtschaftsakteure. … [Die Anleger] wissen nicht, wohin sie flüchten sollen, da die US-Notenbank die Zinsen anhebt, die Inflation steigt und die Angst vor einer Rezession und den Auswirkungen des anhaltenden Krieges in der Ukraine wächst.“
Weitere Verschuldung ist keine Lösung mehr
Vor allem den südeuropäischen Ländern droht nun eine neue Schuldenkrise, mahnt De Volkskrant:
„Aufgrund der Inflation scheint es diesmal keinen einfachen und schmerzlosen Ausweg zu geben. Seit der Finanzkrise von 2008 wurde jede Krise damit bekämpft, mehr Schulden zu machen, wie in einer Art Antibiotika-Kur für die Wirtschaft. Aber ab einem bestimmten Moment wirkt dieses Medikament nicht mehr und die Wirtschaft muss selbst genesen. Statt alles wirtschaftliche Leid verhindern zu wollen, muss die Politik vor allem darüber nachdenken, wie das Leiden ehrlich verteilt werden kann.“
Sehr behutsam vorgehen
Dass die Banken beim Anheben der Zinssätze so lange zögern, hält Trends-Tendances für richtig:
„Heute ist der Preisanstieg in erster Linie auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, die die Produktion in China und den Transport einer ganzen Reihe von Waren ins Stocken gebracht hat. Der Krieg in der Ukraine hat diese Entwicklung nur noch beschleunigt. Eine Erhöhung der Zinssätze wird an diesem Mangel an Gütern nichts ändern. Deshalb zögern die Zentralbanken heute, dies zu tun, vor allem in der Eurozone. Viele Arbeitnehmer sind auch Mieter, die unter der Inflation leiden, weil die Mieten indexgebunden sind. Die gleichen Arbeitnehmer sind leider auch oft verschuldet, sodass höhere Zinsen für sie eine doppelte Last bedeuten würden.“
Nach den Wahlen wird es richtig eng
Eine Zinserhöhung wird Frankreich schwer zusetzen, befürchtet La Croix. Vor der Parlamentswahl in Frankreich sollten sich die Bürger dessen bewusst sein:
„Seit bald 50 Jahren lebt unser Land mit einem Haushaltsdefizit ununterbrochen über seine Verhältnisse. Die nachgiebige EZB-Politik hat diese Realität eine Weile verschleiert. Die neue Mehrheit im am 19. Juni gewählten Parlament wird mit einer neuen Lage konfrontiert sein. In der Zwischenzeit sollten die Wähler die Wahlprogramme mit viel Abstand betrachten – sowohl die Programme, in denen es darum geht, Geld auszugeben, als auch jene, die weitere Steuersenkungen in Aussicht stellen. Denn in beiden Fällen besteht die Gefahr, dass diese Versprechen an der Schuldenfinanzierung scheitern.“