Nordirland-Protokoll: London kündigt tatsächlich
Nach mehreren erfolglosen Telefonaten zwischen London und Brüssel hat die britische Regierung wie angedroht ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die Regelungen des Nordirland-Protokolls teilweise aussetzt. Bei Zollkontrollen zwischen den Inseln soll für Waren nach Nordirland ein Schnellverfahren gelten. Auch sollen nordirische Firmen wählen können, ob sie britische oder EU-Standards anwenden.
Ein starkes Stück
In der SRF-Radiosendung "Echo der Zeit" sieht London-Korrespondent Patrik Wülser trotz gegenteiliger Beteuerungen aus Westminster eine Missachtung des Brexit-Deals:
„Der Vorschlag kommt diplomatisch und freundlich daher, ist aber klar eine einseitige Umformulierung des Nordirland-Protokolls. Wenn die Außenministerin dieses Paket [am Montag] im Parlament vorlegt, eröffnet sie eine multidimensionale Schachpartie. ... Am Ende muss London auch Washington überzeugen. Die Biden-Regierung hat immer gesagt, ein Freihandelsabkommen mit den USA werde es nur geben, wenn der Frieden in Nordirland garantiert sei.“
Johnson setzt zu viel aufs Spiel
Der Ankündigung kann man nichts Gutes abgewinnen, findet Irish Independent:
„Mit der für ihn typischen Herablassung und unangebrachtem Selbstbewusstsein hat Boris Johnson den einseitigen Bruch eines internationalen Abkommens als 'keine große Sache' bezeichnet. ... Dieser gefährliche Schritt schadet der Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu einem für europäische Angelegenheiten kritischem Zeitpunkt. Er beschädigt Großbritanniens internationalen Ruf als ehrlicher Vermittler und schadet den anglo-irischen Beziehungen. Bedenklich ist auch, dass er den Frieden, die Stabilität und die Kontinuität gefährdet, die das Karfreitagsabkommen schuf. Einen Dominoeffekt wird er zudem auf Irlands Mitgliedschaft im Binnenmarkt haben.“
Unnötiger Vertrauensbruch, unnötige Eskalation
Dieser Schritt ist unverantwortlich und destabilisierend, findet The Guardian:
„Indem Liz Truss jetzt ihre Bereitschaft erklärt, ein internationales Abkommen einfach aufzukündigen, sendet sie der Welt eine schädliche Botschaft: Man kann den Versprechen Großbritanniens nicht trauen. Sie verärgert damit auch unnötigerweise unseren wichtigsten Handelspartner und riskiert, eine Abwärtsspirale in den Beziehungen zur EU in Gang zu setzen - und das in Zeiten einer Wirtschaftskrise. Brüssel zeigt Verhandlungsbereitschaft und man ist sich einig darüber, dass eine flexiblere Umsetzung des Protokolls wünschenswert wäre. Auch wurden bereits Lockerungen angeboten, beispielsweise bei Lebensmittelkontrollen und Arzneimitteln. Warum also diese Eskalation?“
Keine Schwäche zeigen
London muss diesen Schritt jetzt mutig weitergehen, fordert hingegen The Daily Telegraph:
„Das Nordirland-Protokoll wurde zu einer Zeit vereinbart, als Remainer im Parlament alles in ihrer Macht Stehende taten, um die Position des Vereinigten Königreichs zu untergraben, wozu auch die Streichung der Möglichkeit gehörte, sich ohne Deal voneinander zu trennen. Der Verlauf der Gespräche und die Weigerung der EU, innovativere Lösungen der irischen Grenzfrage in Betracht zu ziehen, banden der Regierung die Hände. . ... Das schlimmste Resultat wäre nun, wenn die Regierung den Einsatz erhöht und dann aus Angst vor den Folgen doch vor den Maßnahmen zurückschreckt. Großbritannien hat schon mal dafür gezahlt, angesichts von Drohungen aus der EU Schwäche zu zeigen.“
Auf der falschen Baustelle unterwegs
Johnson will mit seinem Einwirken auf die Unionisten Bewegung in die nordirische Regierungsbildung bringen, kritisiert Irish Examiner:
„Dass das Protokoll ein hart umkämpfter Teil des Brexit-Abkommens zwischen der EU und Großbritannien war, welches von Johnson unterschrieben und als 'großartiges Abkommen' gelobt wurde, scheint für ihn jetzt kaum noch von Bedeutung zu sein. ... Anstatt zu versuchen, die Parteien in Stormont zu beschwatzen, wieder 'an die Arbeit' zu gehen, sollte er Gespräche mit der EU orchestrieren und das Problem im richtigen Forum lösen - nicht nur Risse in einer Mauer überkleben, die er selber mit errichtet hat.“
Jämmerliches Spektakel
Großbritannien muss sich damit abfinden, dass der Brexit eben auch negative Folgen hat, stellt Sydsvenskan klar:
„Das Brexit-Abkommen, das neue Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland verhindern soll, hat eine Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs geschaffen. Mit dem Brexit hat das Vereinigte Königreich nicht nur neue Grenzen zwischen sich und der EU, sondern auch innerhalb des Vereinigten Königreichs errichtet. ... Boris Johnson führte den Kampf für den Brexit an. Jetzt ist er unzufrieden mit den Folgen für Großbritannien. Jämmerlich.“
Johnsons Lügen holen ihn ein
Zumindest theoretisch gäbe es für London einen einfachen Ausweg aus dem Dilemma, finden die Salzburger Nachrichten:
„Nun wollen Johnson und seine forsche Außenministerin Liz Truss das Nordirland-Protokoll kurzerhand versenken. Einseitig, völkerrechts- und vertragswidrig. Ein gelinde gesagt absurder Vorgang, denn es ist nur geschehen, was klar war: Die britische Provinz Nordirland kann nicht gleichzeitig in und außerhalb der EU sein. ... Es gäbe ja eine simple Lösung. London müsste nur die Lebensmittel- und Tiergesundheitsstandards der EU weiterhin selbst anwenden. Dann wäre der Löwenanteil aller Kontrollen hinfällig. Damit aber wäre eine nächste Lüge Johnsons ausgehebelt, nämlich dass sämtliche EU-Regeln überflüssiger Nonsens sind.“