Finnland: Wie viel Party darf sich Marin erlauben?
Nunmehr zwei in die Öffentlichkeit gelangte Privatvideos von der finnischen Regierungschefin Sanna Marin beim ausgelassenen Tanzen sorgen für Diskussionen. Marin sagte, sie bedaure zwar, dass die Aufnahmen veröffentlicht wurden, sieht aber kein Fehlverhalten und machte zudem demonstrativ einen Drogentest. Europas Presse reflektiert die Debatte.
Schützt die Demokratie und lasst sie tanzen
Dagens Nyheter empfindet die Kritik an Marin als unheilvolle Hexenjagd:
„Die Bilder der tanzenden Ministerpräsidentin stehen in keinerlei Zusammenhang mit ihrem Amt oder ihren politischen Ansichten. Ihre Tränen sind somit auch ein Zeichen dafür, wie wichtig die Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem für die Demokratie ist. Fällt diese Grenze, erodiert der Rechtsstaat. ... Das Ergebnis ist eine Welt voller heimlich aufgenommener Gespräche, unerwarteter Denunziationen und permanentem Misstrauen. ... Es ist die schleichende Rückkehr des Totalitarismus. ... Lasst [Marin] und andere Regierungschefs in Ruhe tanzen. Allein schon um der Demokratie willen.“
Letztes Aufbäumen der Frauenfeinde
Volkskrant-Kolumnistin Aleid Truijens entlarvt ranzigen Frauenhass:
„Marin führte Finnland klug durch die Corona-Krise. ... Sie lotste ihr Land in die Nato. Sie trotzte den Bedrohungen von Putin und verteidigte die westlichen Freiheiten. ... Dass Marin bildschön ist, dass sie selbstverständlich Familie mit ihrem Amt als Premierministerin kombiniert, unbekümmert Fotos von sich in sexy Outfits oder beim Stillen postet, schürt das Bedürfnis bei internationalen Losern, sie zu erniedrigen. Es ist ein letztes Aufbäumen, diese Hasswelle. Sie kommt von einer Gruppe, die Einfluss verliert. Die weltweite Unterstützung für Marin, von Männern und Frauen, überstimmt locker das Gebrumm der ohnmächtigen Hasser.“
Demokratie erfordert Transparenz
Keskisuomalainen wirft Marin vor, ein falsches Bild von der Rolle der Medien in einer Demokratie zu haben:
„Das Problematische an dem Video von der Feier der Premierministerin ist die Gruppe oberflächlicher Personen, mit denen Marin sich umgibt. Sie scheint sich in einem Kreis von feierfreudigen Menschen bewegen zu wollen, in einer Welt, in der die Werte der Reichen und Schönen zählen. … Nach Marins Vorstellung sollte sich die Berichterstattung über Politiker auf ihre öffentliche Aufgabe beschränken. … Sie meint, die Öffentlichkeit solle zu ihren Bedingungen und den Bedingungen der Entscheidungsträger funktionieren. Die Bürger sollten nur sehen, was Premierministerin Marin sie sehen lassen will. … Diese Vorstellung Marins ist der Demokratie fremd.“
Heikle Abwägung
Das Partyvideo der finnischen Regierungschefin liefert viel Stoff zum Nachdenken, findet der Journalist Oleh Pawljuk in Ewropeiska Prawda:
„Was alles passieren könnte, wenn der finnischen Ministerpräsidentin bei der Feier etwas zustößt oder sie sich mit einer wichtigen nationalen Frage befassen muss - vor allem, wenn man bedenkt, dass das Land an Russland grenzt, das einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine führt? ... Die Geschichte von Sanna Marin - und nicht nur die aktuelle mit der Party - wirft auch eine andere Frage auf: Hat ein hoher Staatsbeamter die Pflicht, immer abgeschirmt zu sein? Und hat er oder sie auch ein Recht auf lebendige Gefühle und Emotionen außerhalb der Arbeitszeit?“
Überzogene Erwartungen an Politiker
Kein Wunder, dass viele Staaten keine qualifizierten Politiker mehr finden, kommentiert der Kurier die Aufregung:
„Warum findet das überhaupt den Weg an die Öffentlichkeit? Offensichtlich, weil jemand damit rechnet, dass das der Betroffenen schaden könnte. Dass so etwas verfangen könnte, sagt freilich einiges darüber aus, was wir an Überzogenem und Widersprüchlichem auf Politiker projizieren. ... Das alles wird tendenziell dazu führen, dass immer weniger hoch qualifizierte Menschen bereit sein werden, in die Politik zu gehen - weil sie wenig Lust verspüren, für ein vergleichsweise bescheidenes Gehalt ständig im grellen Licht der Öffentlichkeit zu stehen und sich permanent vermeintliche wie tatsächliche Verfehlungen um die Ohren hauen zu lassen.“
Ein Hoch auf das Partygirl
Dass Sanna Marin ausgelassen feiern kann, zeichnet die Regierungschefin aus, lobt Kolumnistin Judith Woods in The Daily Telegraph:
„Marin ist eine bildschöne, schlanke 36-Jährige mit einem Ehemann, einer kleinen Tochter und einem Land, das es zu regieren gilt. Natürlich sollte es möglich sein, dass sie tanzt und Dampf ablässt. ... Daher ein Hoch auf das Partygirl Sanna, das zeigt, dass man gleichzeitig Politikerin und normaler Mensch sein kann. Unabhängig von Traditionen und ungeachtet dessen, was ihre konservativeren Landsleute behaupten, ist es viel gesünder, exzessiv zu tanzen und auf seine Jugend anzustoßen, als sich - der finnischen Tradition 'Kalsarikännit' entsprechend - in Unterwäsche daheim alleine zu betrinken.“
Weniger naiv sein
Dass die Videos gegen Marins Willen in die Öffentlichkeit gelangt sind, zeigt, dass sie sich mit Leuten umgibt, denen sie nicht trauen kann, kritisiert Helsingin Sanomat:
„Marin mag in gutem Glauben gehandelt haben, aber so leichtgläubig sollte sie nicht sein. Was die Menschen um Marin eint, ist nicht nur der Wunsch zu feiern, sondern auch der Wunsch nach Publicity. Es könnte noch mehr undichte Stellen geben. Wenn nicht jetzt, dann auf der nächsten Party. Bei diesem Tempo ist Marin immer nur ein Skandalvideo von einer politischen Katastrophe entfernt. Marin hat ein schlechtes Urteilsvermögen bewiesen, indem sie ihren eigenen Ruf und den Ruf des Amts der Premierministerin abhängig von Leuten gemacht hat, denen man nicht trauen sollte.“
Spiegel der Gesellschaft
Wie Finnland, Großbritannien und Polen mit Skandalen umgehen, macht Polityka nachdenklich:
„Man könnte sagen, dass Skandale einer Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Mit dem von den Bürgern erzwungenen Rücktritt Johnsons hat das Vereinigte Königreich politischen Tendenzen Einhalt geboten, die in beunruhigendem Maße an die faschistoide Erhebung der Macht über das Gesetz erinnern. In Finnland zeigt die Weigerung der Öffentlichkeit, aus dem Tanz der Premierministerin einen Skandal zu machen, einen moralischen Fortschritt. Vor diesem Hintergrund kann man nur darüber seufzen, dass in Polen hingegen ein Skandal den anderen jagt, aber daraus leider gar nichts folgt.“