Deutschland verurteilt Holodomor als Völkermord
Der Deutsche Bundestag hat eine Resolution verabschiedet, die den Holodomor in der Ukraine von 1932 und 1933 als Völkermord anerkennt. Die SPD-Abgeordnete Gabriela Heinrich sagte, der Holodomor sei eine von Stalin "gewollte und geplante Hungersnot" gewesen. Mehrere Millionen Menschen in der Ukraine waren damals dem Hunger zum Opfer gefallen. Kommentatoren beurteilen die Resolution unterschiedlich.
Verordnete Erinnerungspolitik
Dass der Deutsche Bundestag mit seinem Entscheid die Geschichtswissenschaft übergeht, findet die Neue Zürcher Zeitung problematisch:
„Zwar ist es unstrittig, dass Stalin plan- und absichtsvoll Millionen Bauern verhungern liess und damit ein Menschheitsverbrechen beging. In der Frage aber, ob er damit auch völkermörderisch handelte, gibt es keinen Konsens. … So aber verordnet das Parlament Erinnerungspolitik von oben herab - und das bei umstrittener Faktenlage. Man kann nur hoffen, dass ... Historiker auch weiterhin ergebnisoffen die Frage erforschen werden, warum die Sowjetunion Millionen Ukrainer und andere Sowjetbürger in den Hungertod schickte. Leichter wird es nach der faktenschaffenden, das Meinungsklima einseitig prägenden Resolution nicht.“
Note nach Moskau
Die Entscheidung fällt nicht von ungefähr gerade jetzt, analysiert der frühere Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Vladimiro Zagrebelsky, in La Stampa:
„Mit der Verwendung des Wortes Völkermord - dem schwerwiegendsten und gewichtigsten unter den Begriffen für internationale Verbrechen - will man politisch eine Botschaft aussenden, die einen Zusammenhang herstellt mit der jetzt von der russischen Seite eingeschlagenen Kriegsführung, mit der Zerstörung der zivilen Infrastrukturen zur Stromerzeugung und Wasserversorgung, jetzt, wo die Kälte über die Ukraine hereinbricht: damals Hunger und Tod, heute Kälte und Tod.“
Wer im Glashaus sitzt ...
Die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti findet, die Deutschen hätten am allerwenigsten ein moralisches Recht, in solchen Fragen zu richten:
„Denn es waren frühere Generationen deutscher Politiker, die Hunger als militärische Waffe zur Durchsetzung politischer Ziele einsetzten. Und es geht beileibe nicht nur um die Blockade von Leningrad, sondern ganz allgemein um die Art des deutschen Feldzugs zur Vernichtung unseres Landes und seiner Bevölkerung während des Großen Vaterländischen Krieges. Nur in der Sowjetunion verurteilten Nazibosse, Militärs und Konsorten gemäß Generalplan Ost zig Millionen Sowjetbürger zum Hungertod - ganz unabhängig davon, ob sie in Russland, Weißrussland oder der Ukraine lebten.“
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Die Abgeordnete Anne Genetet (Renaissance) hat im französischen Parlament einen Entwurf für eine Resolution eingereicht, die den Holodomor als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstuft. Contrepoints zieht mit:
„Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Sowjets begann Anfang der 1920er Jahre auf den Solowezki-Inseln, als Lenin die ersten kommunistischen Konzentrations- und Vernichtungslager einrichtete. Sein schreiender Schatten überdeckt 70 Jahre russischer, ukrainischer, bulgarischer und belarusischer Geschichte. … Der Holodomor ist keine Ausnahme: Er ist eine Blaupause, und daher muss man ihn erkennen und unablässig anprangern, solange Nordkoreaner in ihrem doppelt abgeriegelten Land verhungern wie die Ukrainer in den 1930ern. Der Holodomor ist nicht vorbei.“