Was hinterlässt Papst Benedikt XVI.?
Seit dem frühen Montagmorgen stehen Gläubige vor dem Petersdom in Rom Schlange, um sich von Benedikt XVI. zu verabschieden. Der emeritierte Papst war am Samstag im Alter von 95 Jahren gestorben. Kommentatoren beleuchten die Widerstände und Konflikte, die sein Pontifikat und sein Wirken als Theologe prägten.
Ultrakonservative bleiben ohne Vermittler
Der ultrakonservative Flügel in der Kirche könnte Papst Franziskus nun gefährlich werden, befürchtet Corriere della Sera:
„Ratzinger hat fast zehn Jahre lang durch seine Schriften oder seinem Biografen Peter Seewald zugesteckte Vertraulichkeiten die radikalsten Zentrifugalkräfte zurückgehalten. Es handelt sich nicht nur um den extremen Flügel, die Sedevacantisten und Verschwörungstheoretiker, die ihm seinen Rücktritt nie verziehen haben. … Die Unzufriedenheit ist im Laufe der Jahre gewachsen, und in dieser internen Opposition bilden die Vereinigten Staaten den Mittelpunkt. Seit einiger Zeit ist die Rede von einem 'Schisma' der US-amerikanischen katholischen Rechten, die Bergoglio feindlich gesinnt und reich an Finanzmitteln und Netzwerken sind. “
Angst vor der Wissenschaft
Der Theologe Vito Mancuso erklärt in La Stampa:
„Ratzingers Misstrauen gegenüber den biblischen Wissenschaften wird in seinem dreibändigen Werk über Jesus deutlich, wo er die wissenschaftliche Exegese der Evangelien fast völlig außer Acht lässt, unbequemen Fragen ausweicht und am Ende ein Jesusbild präsentiert, das an Devotionismus grenzt. Dies erscheint zunächst als Problem, das nur ihn und den wissenschaftlichen Rang seiner Arbeit betrifft, aber es betrifft alle seit dem Moment, von dem er als Präfekt der Glaubenskongregation (ein Amt, das er 23 Jahre lang innehatte) seine disziplinarische Macht gegen Bibelwissenschaftler und Theologen ausübte. ... Ich meine die vielen Dutzend Theologen, denen die Professuren entzogen wurden. ... Ratzingers Problem war meiner Meinung nach Angst. ... Und aus Angst entsteht Aggression.“
Vergebliche Suche nach Ruhe
Ratzingers wichtigste Mission ist ihm misslungen, findet Tygodnik Powszechny:
„Nach den Worten von [Vatikan-Experte] Marco Politi war die Wahl von Kardinal Joseph Ratzinger zum Papst im April 2005 Ausdruck der Überzeugung, dass die Kirche 'einen Moment der Ruhe nach einem gigantischen Pontifikat' brauche. Und der neue Bischof von Rom suchte Ruhe. Erfolglos. Er wollte eine Kirche bremsen, die durch das Zweite Vatikanische Konzil in Aufruhr geraten war, inmitten von Kontroversen, im Dunkeln, auf der Suche nach neuen Wegen für sich und die Welt.“
Im Kampf gegen Missbrauch versagt
Bei dem für viele so brennenden Thema sexueller Missbrauch in der Kirche gelang es dem verstorbenen Papst nicht, die Erwartungen zu erfüllen, bilanziert The Daily Telegraph:
„Niemand kann bestreiten, dass Benedikt in einer Zeit, in der die Kirche medial im Rampenlicht stand, mit seiner Aufgabe, Papst zu sein, zunehmend überfordert war. Grund dafür waren seine angeschlagene Gesundheit, seine sanftmütige Persönlichkeit und die Politik innerhalb des Vatikans. Und so sehr er sich auch wünschte, die Botschaft Jesu zu teilen, was Millionen Menschen wirklich wollten, war entschiedenes Handeln gegen Kindesmissbrauch. Und in dieser Frage scheiterte er, wie er später auch selbst eingestand.“
Der Krise offen begegnet
Auch für Deník N war Benedikts Pontifikat überschattet von den Enthüllungen über sexualisierte Gewalt in der Kirche, das Blatt attestiert ihm aber eine gute Reaktion darauf:
„Vor einem Jahr tauchte Benedikts Name in einem Untersuchungsbericht des Erzbistums München unter denen auf, die Fehler bei der Bearbeitung solcher Fälle gemacht hatten. Was die Reaktion auf den Missbrauch selbst betrifft, sollte daran erinnert werden, dass Benedikt versuchte, neue Regeln für den Umgang mit geistlichen Straftätern aufzustellen. Er verfolgte eine 'Null-Toleranz'-Politik und bestrafte mehrere hochrangige Priester kirchlich, die zuvor als unantastbar galten. Er war der erste Papst, der den Opfern begegnete, der erste, der offen über die Krise sprach.“
Die Kirche zur Burg ausgebaut
Als Brückenbauer ist Benedikt gescheitert, hebt die Frankfurter Rundschau hervor:
„Es ist dem deutschen Papst weder in seiner fast achtjährigen Amtszeit noch danach als 'Papa emeritus' gelungen, sich in einen fruchtbaren Austausch mit der zeitgenössischen Gesellschaft zu begeben und seine Kirche mit der Welt von heute in Verbindung zu bringen. ... Als Papst wollte Benedikt XVI. vielmehr - um im Bild zu bleiben - die Zugbrücke hochziehen und den Wassergraben vertiefen, um die katholische Kirche als feste Burg nur ja vor all den verderblichen Einflüssen der Moderne zu bewahren.“
Großer Papst mit sanftem Lächeln
Le Figaro hingegen lobt das Vermächtnis des viel Kritisierten:
„Selten wurde ein moderner Papst so verleumdet. ... Doch dieser Mann, der die traditionelle Messe liebte und als konservativ galt, vollzog eine Geste unglaublicher Kühnheit. Sein Verzicht auf den Heiligen Stuhl veränderte in kürzester Zeit den Status des päpstlichen Amtes. Benedikt XVI. hatte weder das Charisma von Johannes Paul II. noch das Temperament von Franziskus, aber die Nachwelt wird sich an diesen großen Papst mit seinem sanften Lächeln erinnern, der vom Heraufkommen einer kulturlosen und hoffnungslosen Welt geplagt wurde, der er ein wenig von seinem Glauben an Jesus Christus vermitteln wollte.“