Estland: Was bedeutet der Wahlsieg von Kallas?
Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas hat die Parlamentswahl klar für sich entschieden. Ihre wirtschaftsliberale Reformpartei erhielt 37 der 101 Sitze. Die rechtspopulistische Oppositionspartei Ekre kam mit 17 Mandaten auf den zweiten Platz. Europas Presse kommentiert die Ergebnisse insbesondere in Hinblick auf Kallas' klare Haltung in Bezug auf Russland.
Vorbild für Europa
Eesti Päevaleht freut sich, dass nach der Präsidentenwahl in Tschechien nun auch Estland gezeigt hat, dass der Vormarsch der Populisten in Europa nicht zwangsläufig ist:
„Eine historische Rekordzahl an Bürgern hat das Narrativ gekippt, die selbsternannten Nationalkonservativen könnten die Regierung beanspruchen. ... Der wichtigste Faktor ist der von Russlands Herrscher Wladimir Putin begonnene Krieg gegen die Ukraine. Ekre hat die Solidarität der Gesellschaft mit der Ukraine unterschätzt. ... Gleichzeitig hat sich Regierungschefin Kaja Kallas besonders im Ausland als starke Fürsprecherin Estlands bewiesen.“
Lohn für stramme Unterstützung der Ukraine
Es war die entschiedene Haltung gegenüber Russland, mit der Kallas gepunktet hat, glaubt die taz:
„Mit ihrem Diktum 'wir könnten die Nächsten sein' hat sich Kallas ohne Wenn und Aber stramm an der Seite der Ukraine positioniert. Wo andere noch über Helme für die ukrainische Armee und Unterwäsche für die eigenen Truppen redeten, hat sie geliefert und sich in Europa an die Spitze derer gesetzt, die beispielsweise in Sachen Sanktionen gegen Moskau Druck mach(t)en. Diesen klaren Kurs haben die Wähler*innen offensichtlich goutiert.“
Esten bleiben dabei
Diese Haltung gegenüber der Ukraine wird in Estland Bestand haben, meint Newsweek Romania:
„Die Esten sind der anhaltenden Konfrontation zwischen dem ukrainischen und russischen Militär keineswegs überdrüssig geworden. … Estland hat immer die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine missbilligt; es hat übrigens Kyjiw verglichen mit jedem anderen Land die meisten Waffen geliefert - bezogen auf seine Einwohnerzahl. Und das mit der Zustimmung der Mehrheit der Esten, wie wiederum die Wahlschlappe der Ekre-Partei zeigt, die der von Kaja Kallas geführten Regierung vorgeworfen hatte, sie würde die militärischen Vorräte des Landes aufbrauchen - eine Übertreibung, die die estnischen Wähler eindeutig abgestraft haben.“
Wähler wollen eine liberale Regierung
Kallas sollte auf neue Koalitionspartner setzen, fordert Õhtuleht:
„In diesen international turbulenten Zeiten wäre es gut, wenn sich das Machtvakuum nicht in die Länge zieht und schnellstmöglich eine handlungsfähige Regierung ins Amt kommt. Die bequemste Option wäre zwar die Fortsetzung der derzeitigen Koalition. Aber es gibt keinen Grund, Isamaa [8 Sitze], das ein Drittel seiner Sitze verloren hat, mit den bereits vorgebrachten unverhältnismäßigen Forderungen zu belohnen. Noch unlogischer wäre es, sich mit dem Verlierer dieser Wahl, der Zentrumspartei, zu vereinen, wenn die Wähler deren Mandat stark beschnitten haben. Die Alternative wäre, die neue [liberale] Partei Eesti 200 ins Boot zu holen.“
Die Aufgabenliste ist lang
Die Herausforderungen, die jetzt auf Kallas warten, beschreibt die Süddeutsche Zeitung:
„[A]uch in Estland gibt es Ängste vor sozialem Abstieg und Frust wegen der hohen Teuerungsrate. Nicht nur die Rechtsextremen gingen mit schlichten sozialen Versprechungen auf Stimmenfang. Auch die Sozialdemokraten und die Zentrumspartei mahnen, bei all den Ausgaben für die Ukraine-Hilfe und die eigene Verteidigung nicht das eigene Volk zu vergessen, und zugleich auch Strategien für Familien und Unternehmen in wirtschaftlicher Schieflage zu entwickeln. Schließlich muss Kallas sich um die russischsprachige Minderheit kümmern, die zwar teils ihre Partei gewählt hat - teils aber auch gar nicht von der estnischen Politik erreicht wird.“