Drohnen über dem Kreml: Was steckt dahinter?
Die Hintergründe des vom russischen Präsidialamt bestätigten Abschusses zweier Drohnen über dem Kreml bleiben weiter mysteriös: Moskau spricht von einem versuchten Attentat auf Wladimir Putin und macht die Ukraine und die USA verantwortlich. Kyjiw und Washington weisen die Anschuldigungen zurück. Europas Presse rätselt über mögliche Motive und mahnt zu Besonnenheit.
Motivationsschub für kriegsmüde Russen
Die Behauptung, der Drohnenangriff auf den Kreml sei aus der Ukraine gelenkt gewesen, ist für Reflex absurd:
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass er von den Russen selbst inszeniert wurde. Die Bevölkerung dort interessiert sich kaum für die Kriegsanstrengungen des Landes. Einberufungen zur Armee betrafen hauptsächlich ländliche Gebiete Sibiriens und Häftlinge. In Moskau und anderen Großstädten scheint sich das Leben nicht grundlegend geändert zu haben. ... Der Krieg scheint in seinen gegenwärtigen Positionen einzufrieren und es wird ein viel bedeutenderes Engagement von russischer Seite erfordern, voranzukommen. Ein Angriff direkt auf das Symbol des Landes kann daher ein gutes Mobilisierungselement sein, das den Kampfgeist der Russen stärkt.“
Keine Inszenierung
Webcafé glaubt nicht, dass Russland selbst hinter dem Drohnenangriff auf den Kreml steckt:
„Es ist schwer vorstellbar, dass Putin so verzweifelt nach politischem Kapital sucht, dass er einen inszenierten Angriff anordnet, bei dem seine eigene Luftabwehr nicht mit zwei Drohnen fertig wird, die Hunderte von Kilometern über russisches Gebiet fliegen und das Herz der russischen Hauptstadt angreifen. ... Die gesamte Operation scheint symbolisch gemeint zu sein. Sie wurde genau eine Woche vor dem 'Tag des Sieges' am 9. Mai gestartet, während sich Moskau auf die jährliche Militärparade auf dem Roten Platz vorbereitet, einem der Symbole von Putins Herrschaft.“
Das Eis ist sehr dünn
Die Salzburger Nachrichten warnen davor, Putin zu sehr in die Enge zu treiben:
„In jedem Fall zeigt der Vorfall, wie dünn das Eis ist, auf dem nicht nur Ukrainer und Russen, sondern alle Europäer wandeln. Man stelle sich nur einmal vor, die Drohnen wären Putin gefährlich nahe gekommen. Kremlkenner verweisen regelmäßig darauf, dass der Präsident zu allem fähig wäre, wenn es ihm persönlich an den Kragen gehen könnte. Deshalb ist es richtig, dass westliche Regierungen die Führung in Kyjiw, bei allem verständlichen Zorn auf Putin, immer wieder zur Besonnenheit ermahnen. Mit Blick auf die bevorstehende ukrainische Offensive wird das noch wichtiger werden.“
Ausdruck von Putins Schwäche
La Repubblica erläutert:
„Der Zar ist nackt. Die kleine ukrainische Drohne konnte Wladimir Putin nicht töten, aber sie hat vielleicht noch Schlimmeres getan: Sie hat sein Image als starker Mann zerstört, den Pfeiler seines zwanzigjährigen Machtsystems. Die Explosion in der Nacht, bei der Flammen an der russischen Flagge züngelten, zeigt die ganze Schwäche des Präsidenten, der nicht nur nicht in der Lage war, die Ukrainer zu besiegen, sondern nicht einmal dazu, seinen Palast zu verteidigen. Dieselbe Schwäche tritt bei Putins seltenen öffentlichen Auftritten zutage, trotz der Bemühungen der Hofarchitekten, sie zu verbergen.“
Wenig gefährlich, aber umso symbolträchtiger
Die Tötung Putins könne wohl kaum die Absicht des Angriffs gewesen sein, schreibt Mark Galeotti, Experte für russische Sicherheitspolitik, in The Spectator:
.„Wenn dies tatsächlich ein ukrainischer Angriff gewesen sein sollte, wäre wohl der militärische Geheimdienst dabei federführend gewesen und die Bedeutung des Angriffs wäre wohl vorrangig symbolisch und politisch. Angesichts der relativ kleinen Sprengköpfe auf den Drohnen war kaum zu erwarten, dass man damit Putin töten könnte. Außerdem ist offenkundig, dass Putin dieser Tage nur sehr selten und widerwillig im Kreml ist. Und tatsächlich war er in seinem Amtssitz Nowo-Ogarjowo außerhalb der Stadt. Was die Ukrainer wohl demonstrieren wollten, ist, dass Moskau nicht sicher ist - und das kurz vor dem 9. Mai, dem 'Tag des Sieges'“
Keine voreiligen Schlüsse
Die Wiener Zeitung rät, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen:
„War das Ganze eine 'False Flag'-Operation, also eine Desinformationsinszenierung, die man der Ukraine in die Schuhe schieben will? Die Geschichte kennt eine Reihe solcher Beispiele: Der Überfall angeblicher polnischer Freischärler (in Wahrheit SS-Leute) auf den deutschen Sender Gleiwitz am 31. August 1939 diente Adolf Hitler als Vorwand für den Angriff auf Polen. ... 2003 hieß es, der irakische Diktator Saddam Hussein habe Massenvernichtungswaffen und müsse daher gestürzt werden, doch nach der US-Invasion wurden nie welche gefunden. Diese Beispiele sollten Warnung genug vor voreiligen Schlüssen sein.“
Rechtfertigung für Anschlag auf Selenskyj?
Moskau bereitet etwas Neues vor, vermutet der russische Oppositionelle Igor Eidman auf gordonua.com:
„Der sogenannte ukrainische Drohnenangriff auf den Kreml sieht nach einer russischen Provokation aus. Und er ist wahrscheinlich der zweite Akt des Balletts. Der erste war vor sechs Tagen, als Putin aus irgendeinem Grund unerwartet nachts in den Kreml gekommen ist. Damals erklärte [Kreml-Sprecher] Peskow dies damit, dass 'der Präsident dort eine Wohnung hat'. Diese Show könnte inszeniert worden sein, um eine Bedrohung Putins durch einen Drohnenangriff auf den Kreml glaubhaft zu machen. ... Der Drohnenangriff als zweiter Teil dieser Provokation dient der Rechtfertigung künftiger russischer Terroranschläge, auch gegen die ukrainische Führung und Selenskyj persönlich.“
Ausrede fürs Parade-Schwänzen
Der Journalist Sergej Parchomenko hält auf Facebook den Drohnenangriff für fingiert, um ein Fehlen Putins bei den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau zu begründen:
„Es würde mich nicht wundern, wenn der Pharao plötzlich ein kleines, gemütliches Stadtfest zum 9. Mai in Witschuga oder Tschuchloma beehrt. ... Putin kann keine Situation gebrauchen (es wäre die erste seit Monaten), bei der im Voraus exakt bekannt ist, wo und wann er erscheinen wird. ... Alle seine Bewegungen sind unvorhersehbar und geheim. ... Aber die Parade ist die Parade, der Rote Platz der Rote Platz, die totale Vorhersehbarkeit. Ein No-Go.“