Erlaubt Estland die gleichgeschlechtliche Ehe?
Die gesetzliche Ausweitung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare in Estland war bereits Teil der Koalitionsverhandlungen zwischen der Reformpartei von Wahlgewinnerin Kaja Kallas, den Sozialdemokraten und der zentristischen Partei Estland 200. Die neue Regierung hat einen entsprechenden Vorschlag ins Parlament eingebracht, wo er nun sehr kontrovers debattiert wird. Ein Blick in die Kommentare der Landespresse.
Der Anfang vom Bösen
Der Historiker Lauri Vahtre wehrt sich in Postimees gegen Vorwürfe, homophob zu sein, weil er die gleichgeschlechtliche Ehe als Einfallstor für Polygamie und andere gesellschaftliche Veränderungen verteufelt:
„Sobald die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert ist, gibt es keinen Grund, warum es nur zwei Partner geben sollte. ... Zunächst wird die Situation, in der ein Kind mehr als zwei gesetzliche Eltern hat, legalisiert, sodass es dann nur noch ein kleiner Schritt zur polygamen Ehe ist. Der [transsexuelle] Mann, der nach Ihrer Tochter die Frauenumkleide betritt, ebenfalls. Nach Ansicht der fortschrittlichen und toleranten Aktivisten von heute werden Warner wie ich von 'Homophobie' geplagt, was leider die primitivste Erklärung ist, die es überhaupt gibt.“
Familienglück wird von ganz anderer Seite bedroht
Männer, die lautstark die Homoehe geißeln und dabei auf traditionelle Familienwerte pochen, sollten sich um Wichtigeres kümmern, stellt Anthropologin Sandra Vokk in Eesti Päevaleht klar:
„Solange häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch und Prostitution in unserer Gesellschaft weit verbreitet sind, haben estnische Männer kein moralisches Recht, über Familienwerte zu dozieren. Das ist nicht nur unglaubwürdig, sondern auch heuchlerisch und unangemessen. Deshalb, verehrte Männer der Macht, der Wissenschaft und der Kirche, tun Sie der Welt einen Gefallen und fangen Sie nicht an, sie mit traditionellen Werten zu 'retten', solange Sie nicht die Ursachen von Gewalt, Machtmissbrauch und zerrütteten Beziehungen angehen wollen.“
Was verletzt eigentlich die Gefühle der Gegner?
Für Sirp-Chefredakteur Kaarel Tarand ist es unverständlich, warum das unterschiedliche Verständnis vom Begriff Ehe so viel Emotionen auslöst:
„Die hitzigste Debatte in der Gesellschaft seit Jahren dreht sich um die Bedeutung eines einzigen Wortes. Jeder hat zweifellos das unveräußerliche Recht, seinen Schmerz auszudrücken, aber ich habe noch nicht ganz verstanden, worin der persönliche Schmerz liegt, wo es wehtut und was im Leben eines Menschen zusammenbricht, wenn zwei Männer oder zwei Frauen gleichberechtigt in einer Wohnung, im selben Dorf oder in einer entfernten Stadt zusammenleben.“