Armenien: Zeit, Russland den Rücken zu kehren?

Vor dem Hintergrund der Krise um das blockierte Bergkarabach will Armenien im September mit den USA eine Militärübung abhalten. Ein Manöver mit dem Bündnis OVKS, dem Armenien zusammen mit Belarus, Kasachstan, Kirgisistan, Russland und Tadschikistan angehört, wurde hingegen abgesagt. Premier Paschinjan hatte es unlängst als Fehler bezeichnet, sich in Sicherheitsfragen nur auf Russland zu verlassen. Kommentatoren stimmen zu.

Alle Zitate öffnen/schließen
Jutarnji list (HR) /

Jerewan fühlt sich von Moskau verraten

Armeniens Liebe zu Moskau ist vorbei, analysiert Jutarnji list:

„Noch ein Putin-Alliierter möchte seine Russland-Verbindungen kappen. Jerewan geht auf Distanz zu den ehemaligen Moskauer Schutzheiligen und sucht Schutz im Westen. ... Diese Kehrtwende ist kein Zufall. Armenien fühlt sich von Moskau verraten, weil es 2020 nicht unterstützt wurde, als der Krieg mit Aserbaidschan erneut losging. Die Türkei unterstützte Aserbaidschan militärisch und politisch, doch Armenien bekam wider Erwartung keine solche Unterstützung von Russland. ... Jerewan wirft Russland Passivität und Nachgiebigkeit gegenüber Aserbaidschan aus Rücksicht auf das gute Verhältnis zur Türkei vor.“

24tv.ua (UA) /

Auf diesen Verbündeten kann man nicht mehr zählen

24tv.ua referiert Aussagen des Militärexperten David Sharp zur Rolle Russlands in Bergkarabach:

„Eigentlich ist Russland ja Armeniens Verbündeter. In der Vergangenheit wurden Partnerschaften aufgebaut, vor allem, wenn es um den Kauf von Waffen ging. ... Heute hat das Aggressorland durch den Krieg, den es gegen die Ukraine führt, selbst große Probleme und verfügt nicht über die Kraft und die Kapazitäten, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Und genau das nutzt Aserbaidschan aus. ... 'Paschinjan sagte, es sei ein strategischer Fehler gewesen [auf Russland zu setzen]. Man hatte aber auch keine andere Wahl', so Militärbeobachter Sharp. ... Die Lage ist ernst. Wenn eine Eskalation droht, ist Armenien viel schwächer als Aserbaidschan. Die Präsenz des russischen Kontingents ist rein symbolisch.“

Neue Zürcher Zeitung (CH) /

Berechtigter Groll gegen internationale Partner

Für die Neue Zürcher Zeitung ist die Passivität nicht nur Russlands der Situation in Bergkarabach nicht angemessen:

„Seit neun Monaten blockiert Aserbaidschan die Zufahrt zur armenisch besiedelten Region Nagorni Karabach. ... Das grausame Vorgehen Aserbaidschans – eines Europaratsmitglieds – verstösst auf flagrante Weise gegen Völkerrecht. ... Zudem ist eine Politik des Aushungerns einer Volksgruppe generell illegal. Sie erinnert an die jahrelange Belagerung der Enklave Srebrenica durch serbische Truppen im Bosnienkrieg. ... Zwar kann man der EU, den USA, der Uno und selbst Russland nicht vorwerfen, dass sie die Augen vor der Notlage verschliessen. Doch das Ganze gleicht mehr dem Simulieren von Handeln als wirklichem Handeln.“

Echo (RU) /

Nervosität im Kreml

Der Politologe Hrant Mikaelian fragt sich in Echo, wie Moskau reagieren wird:

„Das Ansetzen dieser Übungen ist ein Schritt zum Aufbau von Sicherheitsbeziehungen mit den USA. Angesichts des politischen Wettbewerbs um die Südkaukasusregion hat sich die armenische Führung in dieser Sache entschieden und verfolgt eine entsprechende Politik. Armenien ist nicht das erste OVKS-Land, das auf seinem Staatgebiet gemeinsame Übungen mit den USA durchführt. Vor einem Jahr wurden solche Übungen in Tadschikistan abgehalten. Damals reagierte Moskau milde. Aber in Bezug auf Armenien sehen wir jetzt schon, dass die Reaktionen weitaus kritischer sind. ... Die Frage ist, was sich daraus ergibt. “

Der Standard (AT) /

Moskau verliert Kontrolle über eigenen Hinterhof

Der Kreml hat Jerewan im Stich gelassen, meint Der Standard:

„Seit Monaten blockiert [Aserbaidschan] den Latschin-Korridor, die einzige Verbindung zwischen Armenien und der mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region. Die humanitäre Situation dort ist inzwischen katastrophal. Russische Truppen sollten laut Vereinbarung eigentlich für freie Durchfahrt sorgen. Doch Moskaus Interessen liegen derzeit anderswo. Aserbaidschan mit seinen Handelsrouten ist für Russland nicht unwichtig, unter anderem wegen der westlichen Sanktionen. Und auch die Türkei, Aserbaidschans Schutzmacht, soll nicht verprellt werden. Im Gegenzug sieht Russland aber, wie sich Armenien desillusioniert abwendet. Seine Kontrolle über den eigenen Hinterhof schwindet.“

Radio Kommersant FM (RU) /

Friedensvertrag ist der einzige Ausweg

Radio Kommersant FM kann nachvollziehen, dass Jerewan neue Verbündete sucht:

„Die Republik verliert Karabach, und Russland ist nicht in der Lage, diesen Prozess zu beeinflussen. ... Auch Übungen, Einladungen in die Nato oder Drohungen des Westens - die übrigens ausbleiben - helfen nichts. Der einzige Ausweg ist ein Friedensvertrag mit Aserbaidschan und der Türkei. Nikol Paschinjan ist gezwungen, das einzusehen. Aber die bitteren Folgen dieser de facto militärischen Niederlage lassen sich mildern, indem man für alles Russland die Schuld gibt... Das heißt aber nicht, dass der armenische Premier nicht Grund zur Unzufriedenheit hätte. Wozu hat man einen Verbündeten, wenn der in einem schwierigen Moment nicht helfen kann?“