Berlin und Rom streiten über Aufnahme von Migranten
Deutschland übernimmt seit Ende August keine Flüchtlinge mehr aus Italien. Berlin verweist auf die Weigerung Roms, Migranten zurückzunehmen, die Europa via Italien erreicht hatten und dann weitergereist waren. Dazu wäre Italien laut EU-Recht verpflichtet, Rom sagt aber, es sei schon mit Erstaufnahmen überlastet: Auf Lampedusa kamen allein am Dienstag und Mittwoch über 7.000 Menschen an. Kommentatoren besorgt das Thema auf mehreren Ebenen.
Handeln und verhandeln statt sinnlosem Muskelspiel
Corriere della Sera fordert einen anderen Ton von Rom:
„In Brüssel muss man verhandeln und vermeiden, die Muskeln gegenüber den Partnern spielen zu lassen, indem man einen Kampf anheizt, der nichts Gutes bringen kann. In Rom muss man die Bürgermeister und Gouverneure zur Zusammenarbeit auffordern, um die Migranten auf das ganze Land zu verteilen und diejenigen, die die Voraussetzungen erfüllen, anzuerkennen. Nur wenn wir den Migrationsnotstand wirklich in den Griff bekommen und die Rechte garantieren, können wir auch auf die Pflichten der Ankommenden pochen. Und die seit Jahren immer wieder beschworene und nie realisierte Verteilung auf ganz Europa erreichen.“
Und die EU schweigt
La Stampa ärgert sich über Brüssels Passivität:
„Es geht darum, dass in Europa gerade eine neue Migrationskrise ausbricht, und die EU wieder einmal kein Rezept hat. Die Krise ist zwar nicht mit dem Sommer 2015 vergleichbar, aber die Zahl der dieses Jahr eintreffenden Flüchtlinge lässt die Alarmglocken schrillen. ... Und das Klima der zunehmenden politischen Spannungen zwischen Italien, Frankreich und Deutschland verheißt nichts Gutes. Doch wenn man Ursula von der Leyens 70-minütiger Rede zur Lage der EU zuhört, scheint sich nichts zu tun. ... Kein direkter Hinweis auf die Ereignisse der letzten Tage. Kein einziger Hinweis auf die zentrale Mittelmeerroute, die zum Haupttor Europas geworden ist und über die in den ersten acht Monaten dieses Jahres 114.000 Menschen gekommen sind.“
Meloni konnte vollmundige Versprechen nicht halten
Der Tages-Anzeiger kommentiert süffisant:
„Jahrelang versprach Giorgia Meloni ... , eine Regierung unter ihrer Führung würde der illegalen Migration über das Mittelmeer ein Ende bereiten. Seeblockaden, konsequente Ausschaffung irregulär Eingereister, Härte gegenüber Schleppern, Beschlagnahmung und Versenken von NGO-Rettungsschiffen – solchen Ankündigungen verdanken Meloni und deren Partei Fratelli d’Italia einen grossen Teil ihres fulminanten Aufstiegs. Vor diesem Hintergrund wirkt es geradezu ironisch, dass diese Woche an einem einzigen Tag 4500 Flüchtlinge auf der süditalienischen Insel Lampedusa angekommen sind. Und dass sich die Zahl der Überfahrten auf der sogenannten zentralen Mittelmeerroute ... verglichen mit dem Vorjahr mehr als verdoppelt hat.“
Vor einem neuen Süd-Nord-Konflikt
Das Webportal Liberal macht sich Sorgen:
„Die Invasion [sic!] von Migranten in Lampedusa ist ebenso erschreckend wie die Ohnmacht Europas. … Die Migration wird die europäischen Regierungen immer mehr in Bedrängnis bringen und zu Spannungen führen. Die Weigerung der Regierung Meloni, Asylbewerber aufzunehmen, die sich in Deutschland aufhalten, aber von Italien aus in die EU eingereist sind (nach dem Dublin-Verfahren muss Italien als 'Ankunftsland' ihren Antrag prüfen), und die Reaktion Berlins, die Aufnahme von Migranten zu stoppen, die sich in Italien aufhalten, sind nach Ansicht von Analysten in den italienischen Medien erst der Anfang. Wir stehen vor einer neuen Süd-Nord-Konfrontation.“