Vorerst keine Auslieferung: Hoffnung für Assange?
Wikileaks-Gründer Julian Assange darf vorläufig nicht an die USA ausgeliefert werden. Die Richter vom Londoner High Court haben den US-Behörden drei Wochen Zeit gegeben, zu garantieren, dass Assange den in der US-Verfassung verankerten Schutz der freien Meinungsäußerung in Anspruch nehmen kann und nicht die Todesstrafe verhängt wird. Kommentatoren bewerten die Entscheidung auch vor dem Hintergrund der anstehenden US-Wahlen.
Genug ist genug
Die Frage, ob Assange an die USA ausgeliefert werden soll, beantwortet The Independent eindeutig:
„Man stelle sich nur dieses Szenario vor: Eine amerikanische Journalistin mit Sitz in London recherchiert zum indischen Atomwaffenprogramm. Ihre Berichterstattung verstößt eindeutig gegen das indische Gesetz zu Staatsgeheimnissen aus dem Jahr 1923. Indien will sie strafrechtlich verfolgen und – um andere abzuschrecken – für möglichst lange Zeit in ein Gefängnis stecken. Unter welchen Umständen würde diese amerikanische Journalistin also in einen Flug von Air India nach Delhi verfrachtet werden? Richtig, unter keinen Umständen: Keine amerikanische Regierung würde das zulassen. ... Genug ist genug. Lasst ihn frei.“
Kein Verteidiger der Demokratie
Unschuldig ist Assange nicht, betont Le Temps:
„Sein Anwalt kritisiert die Tatsache, dass sein Mandant wegen 'gewöhnlicher journalistischer Praktiken' verfolgt wird. Ist das wirklich so? ... Es ist unbestreitbar, dass seine Plattform dazu beigetragen hat, die Schrecken des US-Krieges im Irak öffentlich zu machen. Aber dem Australier lag die Verteidigung der Demokratie nicht immer am Herzen. … WikiLeaks und der russische Militärnachrichtendienst GRU arbeiteten eng zusammen, um den Wahlkampf der Demokratin Hillary Clinton - dem 'Teufel' - gegen Donald Trump zu stören. Julian Assange hat in diesem Fall mit Hilfe von Wladimir Putins Russland eine Präsidentschaftswahl sabotiert. ... Angesichts der Rückkehr Donald Trumps ist der angerichtete Schaden heute messbar.“
Einigung vor den US-Wahlen für alle besser
Es könnte zu einer Absprache kommen, vermutet Corriere della Sera:
„Diese Entscheidung wirft den Ball zurück nach Washington und könnte mit den Gerüchten übereinstimmen, die das Wall Street Journal in den letzten Wochen über eine Vereinbarung zwischen Assanges Anwaltsteam und dem Weißen Haus verbreitet hat. ... Für die Regierung von Joe Biden ist es sicherlich nicht wünschenswert, mit einem Prozess von Assange, der für einen Teil der westlichen Öffentlichkeit ein Verfechter der Pressefreiheit ist, weitere Fronten der Kontroverse zu entfachen. Und für Assange selbst ist es besser, noch vor den US-Wahlen eine Einigung zu erzielen.“
Verfahrensverschleppung wünschenswert
Hier tut sich eine Chance für Assange auf, meint auch Diena:
„Der Entscheidung zufolge müssen die US-Behörden innerhalb von drei Wochen 'zufriedenstellende Zusicherungen' einreichen, etwa dass er nicht zum Tode verurteilt wird. ... Werden die Zusicherungen nicht eingereicht, kann Assange erneut die Verweigerung des Auslieferungsersuchens beantragen, was auch seine Freilassung bedeuten würde. Angesichts der Tatsache, dass die Präsidentschaftswahl in den USA näher rückt, und Assange eine große Anzahl von Unterstützern insbesondere unter demokratischen Wählern hat, könnte die Regierung von Präsident Joe Biden die Einreichung der erforderlichen Dokumente verpassen oder Gründe dafür finden, warum sie unmöglich ist. ... Das wäre ein ziemlich vernünftiger Kompromiss.“
Mutmaßliche US-Kriegsverbrechen bleiben unaufgeklärt
Die Kleine Zeitung würde sich wünschen, dass nicht nur gegen Assange so vehement vorgegangen wird:
„Assange, der mit WikiLeaks mutmaßliche US-Kriegsverbrechen enthüllte, vegetiert im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh dahin. Über ihm: das Damoklesschwert einer Auslieferung und einer 175-jährigen Haft in den Vereinigten Staaten. Wenn man über den Fall des Australiers debattiert, muss man auch über Meinungs- und Pressefreiheit sprechen: Assanges zugegeben kompromissloses Ringen um Wahrheit wird von den USA als Verrat angeklagt. WikiLeaks deckte unmenschliche Praktiken der US-Armee auf, seitdem wird Assange gejagt. Wo bleibt die breite juristische Aufarbeitung der mutmaßlichen Kriegsverbrechen?“