Sommerspiele 2024 in Paris: Was bleibt?
Die olympische Flamme ist gelöscht, die Fahne an Los Angeles übergeben, eine spektakuläre Abschlussfeier vorbei. Und Europas Presse fragt, wie die Sommerspiele 2024 in Paris zu bewerten sind: Sinnvolle Atempause in Krisenzeiten und verbindende Inspiration für ein gutes Miteinander? Oder aber kritikwürdiges Event?
Nationen verdienen kein Gold
Die taz kritisiert die Logik des Medaillenspiegels:
„Schon dass der Sport durch Verbände wie das IOC sportliche Stärke nationalistisch sortieren lässt, informiert uns darüber, wie die Welt derzeit beschaffen ist. Dabei ginge es auch anders: Man könnte Sportler und Sportlerinnen ja als Individuen behandeln, die, wenn sie als Staffeln oder Teams antreten, sich über sportinterne Netzwerke finden, nicht über Staatsangehörigkeit. Oder bei den Gay Games der queeren Community treten Sportler und Sportlerinnen für ihre Städte an, nicht für Staaten. So etwas nähme bei Olympia schon sehr viel Druck aus dem nationalistischen Kessel.“
Olympia braucht Russland nicht
Kirill Shulika zieht auf Facebook eine Bilanz der Olympischen Spiele:
„Sie verliefen praktisch ohne Russland... Natürlich gibt es in einer Reihe von Wettbewerben weniger Konkurrenz. Aber sie sind kaum schlechter geworden und haben ihr Publikum außerhalb Russlands nicht verloren. Was sagt uns das? Dass Olympia uns nicht braucht, aber wir Olympia. Es war eine riesige Dummheit, dazu aufzurufen, nicht hinzufahren, zu boykottieren, zu blockieren - statt den Sportlern die Chance zu geben, wenigstens mit einem Auge das alles anzuschauen. Man darf ihnen den Traum nicht verweigern.“
Es fehlt an Bewegung
Dass finnische Sportlerinnen und Sportler keine Medaille gewannen, ist für Etelä-Saimaa zweitrangig:
„Für die Nation hat der Erfolg bei der Olympiade wohl wenig Bedeutung. Finnland hat sich schon hunderte Male beim Laufen, Skilaufen, Segeln, Schlittschuhlaufen, der Formel 1 und beim Tontaubenschießen auf der Weltkarte platziert. ... Aber Bewegungsmangel bei Kindern und Erwachsenen ist in Finnland eine neue Volkskrankheit, deren Bekämpfung eine milliardenschwere Herausforderung ist. Wie können wir einen körperlichen und aktiven Lebensstil in den Alltag der Finnen einbauen, jetzt, da sie nicht mehr regelmäßig Dutzende von Kilometern auf Skiern zur Schule laufen müssen und die körperliche Arbeit durch Teams-Meetings und Bewegungen mit der Maus ersetzt wurde?“
Nostalgisch blicken wir zurück auf diese andere Welt
Avvenire fühlte sich in den vergangenen Tagen wohler:
„Wir vermissen schon jetzt diese Schönheit, die Harmonie, die allumfassende Leidenschaft, die uns die friedlichste aller Armeen, die zehntausend Athleten, die an den Wettkämpfen teilnehmen, geschenkt haben, sowohl die Sieger als auch die Letzten. Wir sehnen uns zu dieser Fähigkeit zurück, über die Grenzen hinauszugehen und zu triumphieren. … Wir verspüren Sehnsucht zurück zu der Fähigkeit, für die Flagge der eigenen Nation zu kämpfen, ohne die der anderen zu verletzen. Sehnsüchtig denken wir zurück an diese Sportarten, die wir nie zuvor gesehen haben, an Athleten, von denen wir bis vor 20 Tagen nicht wussten, wer sie sind, an junge Frauen und junge Männer, auf die wir stolz sein können.“
Die Hauptstadt noch nie so angenehm
Libération schwärmt:
„Paris war noch nie so schön und angenehm wie während dieser Olympischen Spiele, die im Herzen der Stadt ausgetragen wurden – eine Premiere in der Geschichte der Spiele, ein gewagtes, aber letztlich erfolgreiches Unterfangen. Es war ein mutiger Schritt, den Sport aus den Stadien zu holen und ihn mitten in der Stadt zu verankern. ... Diese Entscheidung hat sich ausgezahlt und zur Magie der Spiele beigetragen. Wer sich in die fröhliche, pulsierende Menge mischte oder einen Polizisten nach dem Weg fragte, der von dieser Begeisterung freundlich gestimmt war, konnte erkennen, wie viel Gutes eine kollektive Atmosphäre bewirken kann, wenn sie nicht von Fake News und Hass genährt wird.“
Süße Auszeit ist vorbei
Zurück zur Realität, mahnt Le Figaro:
„Zweifellos hinterlassen die Spiele ein wertvolles sportliches und materielles Erbe. Die Kontroversen, die der Veranstaltung vorausgingen, wirken heute fast belustigend. ... Doch die Rückkehr zum Alltag dürfte weitaus weniger erfreulich werden. Die Realität ist die eines Frankreichs, das von Schulden geplagt, mit wachsender Unsicherheit, unkontrollierter Immigration und überlasteten öffentlichen Diensten konfrontiert ist. Die Realität ist die einer Nation, die unter geografischen, kulturellen, religiösen und sozialen Spaltungen leidet. Die Realität ist die eines Volkes, das seinen Vertretern zunehmend misstraut. Die Realität ist die eines Landes in einer tiefen politischen Krise, ohne Mehrheit, ohne Regierung und ohne offensichtliche Lösung in Sicht.“
Bunte Weltoffenheit hat gesiegt
El País jubelt:
„Paris kann sich eines durchschlagenden Erfolgs rühmen, nicht nur sportlich und organisatorisch. Die Stadt hinterlässt ein symbolisches und emotionales Vermächtnis für viele Jahre. ... Frankreich hat die Spiele nach monatelangen politischen und sozialen Konflikten und nur drei Wochen nach einer Parlamentswahl ausgetragen, bei der die extreme Rechte näher an der Macht war als je zuvor. ... Paris hat das beste Bild eines weltoffenen, bunten Landes geboten, so wie es wirklich ist und nicht, wie es sich der populistische Nationalismus vorstellt. ... Paris legt die Messlatte für Los Angeles hoch.“
Das hat dem Weltsport gut getan
Der Standard findet es gut, dass ein globales Sportereignis wieder in einer Demokratie und unbeeinträchtigt von einer Pandemie stattgefunden hat:
„Die Eröffnungsfeier war grandios, die Stimmung prächtig, viele Events fanden in ikonischen Sportstätten statt, etwa beim Eiffelturm, in Versailles, im Grand Palais. Es hat dem Weltsport gewiss nicht geschadet, mal wieder in einer sportbegeisterten Demokratie unter die Leute zu kommen – nach Fußball-WM in Russland (2018) und Katar (2022), Pandemie-beeinträchtigten Sommerspielen in Tokio (2021) und Winterspielen in Peking (2022).“
Volleyballerinnen statt Ringer aus der Türkei
Karar schaut darauf, wer die acht Medaillen für die Türkei gewonnen hat, und stellt fest:
„Unsere Olympiamannschaften, die früher aus Ringern und Gewichthebern bestanden, bestehen heute aus Volleyballerinnen, Boxerinnen, Taekwondo-Kämpferinnen und Leichtathleten, Schwimmern, Bogen- und Sportschützen. Sechs der acht türkischen Medaillen kommen von Sportlerinnen. Dies ist eine Folge der Urbanisierung, der Modernisierung und der Ausweitung der Mittelschicht in der Türkei. Unser traditioneller Sport ist nicht mehr das Ringen. ... Da der Zugang zu Sportmöglichkeiten in der Türkei zunimmt, kommen Turner und Athleten heute aus anatolischen Städten und aus Familien der unteren Mittelschicht.“
Viel Geld verpulvert
Phileleftheros warnt vor zu viel Begeisterung:
„Die Regierungen investieren in den Spitzensport, weil er Idole hervorbringt, mit denen sich die Bürger identifizieren können, sodass sie Probleme und Skandale für eine Weile vergessen. ... Es wäre gut, sich klarzumachen, was wir sehen, damit wir uns amüsieren können mit einer Dosis 'Sport-Dopamin', ohne Schuldgefühle zu haben, aber auf jeden Fall ohne gefährliche Identifikationen und Fanatismus. Vergessen wir auch nicht, wie leicht Geld für solche Feste ausgegeben wird, das viele Probleme der Bürger lösen würde. Und vergessen wir nicht, dass die Athleten sich selbst vertreten – ganz zu schweigen von ihren Sponsoren, ob staatlich oder nichtstaatlich. Sie haben nichts mit unseren Nationalismen zu tun.“