Israel: Massenproteste für Geiseldeal
In Israel ist es zu den wohl größten Protesten seit dem 7. Oktober gekommen, nachdem die Armee die Leichen von sechs Geiseln aus einem Tunnel unter Rafah geborgen hatte. Hunderttausende forderten am Sonntag einen Deal mit der radikal-islamischen Hamas zur Befreiung der verbliebenen 101 Verschleppten. Ein Generalstreik am Montag wurde gerichtlich vorzeitig beendet. Kann der öffentliche Aufschrei Erfolg haben?
Ein Krieg braucht ein realistisches Ziel
Die Demonstranten haben etwas erkannt, was Netanjahu immer noch nicht wahrhaben will, schreibt die Welt:
„[Ü]ber die Zukunft von Gaza will Netanjahu nicht reden. Er weigert sich, ein Exit-Szenario für den Krieg vorzulegen – aus Furcht, seine radikalen Koalitionspartner zu verlieren. Über die Zukunft von Gaza haben die Israelis sehr unterschiedliche Meinungen. Aber einen ziellosen Dauer-Krieg lehnen immer mehr von ihnen ab. Darum würde Netanjahu laut Umfragen seine Mehrheit klar verlieren, wenn heute Wahlen wären. ... Aber die kampferfahrene israelische Bevölkerung weiß schon heute: Ein Krieg ohne realistisches Kriegsziel kann nicht gewonnen werden.“
Interne Aussöhnung ist der Schlüssel
El Mundo fordert einen Kurswechsel innerhalb Israels:
„Die Massenmärsche, gefolgt von einem Generalstreik, haben tiefe Gräben in der israelischen Gesellschaft offenbart, gespalten zwischen denen, die Verhandlungen mit der Hamas fordern, und denen, die die Terrorgruppe in die Knie zwingen wollen. ... Zu den Hardlinern gehören Netanjahus radikale Koalitionspartner, die den Demonstranten vorwerfen, 'den Traum des Hamas-Führers Jahia Sinwar zu erfüllen'. ... Die Spannungen im israelischen Kabinett verschärfen die Unruhen in einem zutiefst zerrissenen Land. ... Die Zeit für die Rettung der Entführten aus dem Gazastreifen wird knapp. Deshalb sollten politische Querelen überwunden, eine interne Versöhnung angestrebt und ein diplomatischer Ausweg aus dem Konflikt gefunden werden.“
Kein Ende in Sicht
Le Temps glaubt nicht, dass die Proteste eine Wende bringen:
„Rückt das Ende dieses schrecklichen Krieges nun endlich näher? Trotz der spektakulären Bilder der Mobilisierung scheint dies leider nicht der Fall zu sein. ... Zwar stellen nun einige Menschen ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln über eine vollständige Niederlage der Hamas. ... Doch die Stimmen, die eine Fortsetzung der Kämpfe befürworten, sind weiterhin sehr laut. ... Das ist vor allem die Folge des schmutzigen Spiels, das Hamas-Führer Jahia Sinwar mit den Gefangenen spielt: Es hat die bereits durch den tödlichen Angriff vom 7. Oktober tief schockierte Öffentlichkeit weiter radikalisiert. Die Zerstörung Gazas und die israelische Kontrolle des Gebiets sind nicht mehr nur der Traum der extremen Rechten.“
Netanjahus ganz persönlicher Kampf
Wenig Hoffnung hegt auch Politologin Alessia Melcangi in La Stampa:
„Warum gibt Netanjahu trotz zahlreicher Verhandlungsversuche nicht nach? Sicherlich hat der Anschlag vom 7. Oktober den Kern dessen getroffen, was Israel für selbstverständlich hält, nämlich seine eigene Sicherheit, und das Image des Premiers beschädigt, daher auch seine harte Reaktion. Viele in Israel sind jedoch der Meinung, dass Netanjahu seine persönlichen Interessen über die der Geiseln und des Landes stellt. Das Ende des Krieges könnte zu einer Untersuchung der Verantwortung seiner Regierung für die Anschläge im Oktober und zu vorgezogenen Wahlen führen. Außerdem könnten die anhängigen Gerichtsverfahren wieder aufgenommen werden.“
Türkei könnte einen Beitrag leisten
Posta sieht in den Protesten ein positives Zeichen:
„[Es scheint,] dass die wichtigste Entwicklung, die Netanjahus Arbeit erschweren wird, innerhalb Israels stattfindet. ... Könnte diese wachsende Unzufriedenheit in Israel das Ende für Netanjahu bedeuten? Die Demonstrationen, die in Tel Aviv begannen und sich in ganz Israel ausgebreitet haben, werden womöglich zu einem neuen Paradigma führen. Die Türkei ist eine der einflussreichen Mächte, die zu dieser neuen Perspektive beitragen können, die auch mit dem Niedergang Irans verbunden ist. Das Treffen zwischen Erdoğan und al-Sisi [erster offizieller Besuch des ägyptischen Präsidenten in Ankara am 4. September] könnte zu neuen Lösungen beitragen.“