Was passiert jetzt im Libanon?
Die Lage im Libanon hat sich dramatisch zugespitzt. Zuletzt hatte Israel die Luftangriffe auf die Hisbollah verstärkt. Hunderte von Menschen wurden getötet, tausende sind auf der Flucht. Aussagen des israelischen Militärs wurden als Vorbereitung einer Bodenoffensive interpretiert. Die Hisbollah-Miliz beschoss weiterhin den Norden Israels und zuletzt auch erstmals den Großraum Tel Aviv mit Raketen. Die Forderung der USA und weiterer Staaten nach einer sofortigen Waffenruhe blieb ohne Wirkung.
Groß angelegter Krieg sinnlos für beide Seiten
Weder Israel noch der Iran dürften ein Interesse daran haben, einen Krieg wie im Jahr 2006 anzustreben, glaubt Tvnet:
„Israel weiß bereits, dass es unmöglich ist, die Hisbollah vollständig zu zerstören, wie es mit der Hamas im Gazastreifen beabsichtigt, und wird es wahrscheinlich auch nicht versuchen, hofft aber sicherlich, ihre Fähigkeit, groß angelegte Angriffe durchzuführen, für lange Zeit zu unterbinden. Es ist klar, dass Iran hofft, den Einfluss Israels zu schwächen, einschließlich der Steigerung des internationalen Drucks, die Militäroperationen im Gazastreifen und im Libanon zu beenden, aber es gibt keine Anzeichen dafür, dass Teheran nun beabsichtigt, die Aktivitäten der Hisbollah ernsthafter zu unterstützen. ... Faktisch erscheint es für beide Seiten sinnlos, einen groß angelegten Krieg zu beginnen, der höchstwahrscheinlich das Szenario von 2006 wiederholen könnte.“
Teheran hat andere Prioritäten
Kolumnist Pierre Haski sieht in France Inter Gründe für die bisherige Zurückhaltung des Irans:
„Teheran sendet überraschend beruhigende Signale. … Die Erklärung ist einfach: Das iranische Regime wird vom Westen bereits der militärischen Unterstützung für Russland bezichtigt; es hat zwei Jahre nach dem Tod von Mahsa Amini und dem Beginn der Frauenrevolte mit einer kritischen inneren Lage zu tun; zudem will es keine Konfrontation riskieren, die seine Bemühungen zur Erlangung der Atombombe zerstören würde. Die Abschreckung funktioniert. Wird es die Hisbollah opfern, auf die Gefahr hin, einen Teil seiner regionalen Glaubwürdigkeit zu verlieren? Das ist die große Frage, doch der Iran will vor allem den Iran retten – selbst auf Kosten des Bluts der Libanesen.“
Bodenoffensive ist großes Risiko
Večernji list gibt zu bedenken:
„Militäranalytiker sind überzeugt, dass eine militärische Bodenoffensive Israel teuer zu stehen kommen würde, da sich die Hisbollah schon seit 20 Jahren auf so ein Szenario vorbereitet. ... Im Falle eines allgemeinen Kriegs wird die israelische Armee gezwungen sein, auf dem Territorium der Hisbollah zu kämpfen, wo die technische und nachrichtendienstliche Übermacht nicht viel nützt. ... Die Hisbollah besitzt ein riesiges Arsenal an Raketen, Drohnen und Panzerabwehrraketen, die sie nutzen kann, um den Vormarsch der israelischen Kräfte zu verhindern.“
Hisbollah-Anführer hat sich verkalkuliert
Die Hisbollah und ihr Anführer verlieren an Rückhalt, glaubt The Economist:
„In den vergangenen zwei Wochen hat Israel der Hisbollah den härtesten Schlag ihrer vier Jahrzehnte währenden Geschichte versetzt. Nasrallah scheint ratlos, wie es weitergehen soll. ... Noch nie war er so isoliert. Er hat viele seiner vertrauten Gefolgsleute verloren. ... Diejenigen, die noch übrig sind, stehen womöglich unter Verdacht: Israel hätte ohne Hilfe von innen keine solch umfangreichen Sabotageakte und Attentate durchführen können. ... In der breiten Bevölkerung sind viele wütend auf Nasrallah, weil er das Land in einen Kampf verwickelt hat, den er nicht gewinnen kann.“
Aussichtslose Lage
So stellt sich das Szenario für die libanesische Zeitung L'Orient-Le Jour dar:
„Die Perversität der rechtsextremen Regierung, die in Israel am Ruder ist, braucht nicht mehr bewiesen zu werden, denn sie wurde durch die explosiven Pager belegt. Die Schwäche des offiziellen Libanons macht diesen zu einer überreifen Frucht, die geerntet werden kann, und daran wird Israel nicht von der internationalen Gemeinschaft gehindert - deren Reaktionen bereits fast ausblieben, als Aserbaidschan Armenien besetzt hat. Man muss jedoch zugeben, dass die Hisbollah sich dank der identitären Ungewissheiten und den konfessionellen Konflikten in einem Land entwickelt hat, das zu schwach ist, um sich militärisch durchzusetzen, und zu zersplittert, um seiner Stimme im Konzert der Nationen Gehör zu verschaffen.“
Pufferzone in einem gelähmten Staat?
Laut Evrensel befürchtet man im Libanon die Absicht der israelischen Regierung,
„eine Pufferzone zu schaffen, die sich auf libanesisches Gebiet erstreckt. In diesem Zusammenhang wird von der Möglichkeit gesprochen, dass Israel eine Bodenoffensive im Libanon beginnt und die in der Grenzregion lebenden Libanesen zwingt, ihr Land zu verlassen. Während diese Szenarien diskutiert werden, sind den libanesischen Politikern die Hände gebunden. Nach der Bankenkrise im Jahr 2019 ist der Libanon pleite, das Präsidentenamt ist seit mehr als 600 Tagen vakant, die Regierung ist provisorisch und die staatlichen Institutionen stehen kurz vor dem Kollaps. Natürlich hat diese Eskalation alle Länder der Region alarmiert, aber niemand ist in der Lage, diesen Prozess zu beruhigen.“
Beide Seiten ohne Strategie
Israel und Libanon stecken in einer Sackgasse, beobachtet Kolumnist Pierre Haski in France Inter:
„Keiner der Akteure dieser gefährlichen Konfrontation hat eine wirkliche Strategie. Die Hisbollah spielt ihre Position als Irans Speerspitze im Nahen Osten aus – durch eine militärische Haltung und nicht durch Diplomatie. Und eine Haltung ist keine Strategie. Die israelische Regierung will ihrerseits nicht dem Druck der USA nachgeben, einen Waffenstillstand in Gaza zu schließen. ... Israel hat die ganze Welt mit der einem Abenteuerfilm würdigen Operation 'explosive Pager' fasziniert, aber hat Schwierigkeiten zu zeigen, dass seine Sicherheit durch einen weiteren Krieg mit der Hisbollah im Libanon gestärkt würde. Es ist also eine totale Sackgasse.“
Israel provoziert den nächsten Krieg
Público fordert die Weltgemeinschaft auf, Israel in die Schranken zu weisen:
„Es ist fast absurd, Israel auf die Seite des Terrorismus zu stellen, wenn man weiß, wie oft Israelis das Ziel dieser perversen Kombination aus Gewalt und Fanatismus waren, die blind ist für unschuldige Opfer. Aber sowohl hier [im Libanon] als auch in Gaza haben die israelischen Behörden eine Grausamkeit an den Tag gelegt, die das Fehlen eines moralischen Kompasses offenbart. ... Es ist Israel, das alles tut, um einen neuen Krieg im Libanon zu provozieren und jede Möglichkeit einer Verhandlungslösung auszuschließen. ... Die internationale Gemeinschaft darf sich nicht mit denjenigen verbünden, die systematisch ihre Gesetze verletzen und den Krieg zur Lösung von Konflikten bevorzugen.“
Rechtmäßig, aber nicht klug
Der Standard hinterfragt den Sinn israelischer Militärschläge gegen die Hisbollah:
„Das Dilemma, vor dem jede israelische Regierung steht, ist, dass die Hisbollah selbst nach einer Bodenoffensive – und davon gab es schon viele – nie so geschwächt sein wird, dass sie nicht als Bedrohung wiederauferstehen kann. Im Gegenteil: Es war der israelische Einmarsch in den Libanon 1982, der den Boden für ihren Aufstieg bereitete. Auch diesmal handelt Israel zwar rechtmäßig, aber nicht unbedingt klug.“
Kampf um Glaubwürdigkeit
Nach den Pager-Angriffen sieht Dagens Nyheter vor allem Hisbollah-Führer Nasrallah in die Ecke gedrängt:
„Die Hisbollah kontrolliert den Libanon. Wenn nötig, hat sie ihre Waffen gegen libanesische Gegner eingesetzt. Aber sie vermeidet interne Gewalt um jeden Preis und übt ihre Macht durch politische Allianzen aus, hauptsächlich mit verschiedenen christlichen und drusischen Parteien. Die Hisbollah rechtfertigt die Aufrechterhaltung ihrer Streitkräfte damit, dass sie das Land gegen Israel verteidigt und die Palästinenser unterstützt. Damit dies glaubwürdig ist, muss die Hisbollah sicherstellen, dass sie den Libanon verteidigen kann, wenn es hart auf hart kommt, und nicht nur [einzelne] israelische Angriffe auf das Land abwehren.“
Hightech macht Kriegsverbrechen nicht besser
Evrensel kritisiert, dass die Pager-Explosionen zu Unrecht Israels Image stärkten:
„Mit dem Lob der israelischen Geheimdienst- und Technologieüberlegenheit wurde tagelang israelische Propaganda betrieben. Doch diese viel gepriesene Geheimdienstleistung und Technologie war ein Kriegsverbrechen. Wenn dieses Thema in den Medien diskutiert werden sollte, dann nur so, dass Israel ein neues Kriegsverbrechen begangen hat, das verurteilt werden sollte, dass wir als internationale Gemeinschaft eine gemeinsame Haltung gegenüber denjenigen einnehmen sollten, die Kriegsverbrechen begehen, und dass diejenigen, die Kriegsverbrechen begehen, definitiv vor Gericht gestellt werden sollten. Das Töten von Menschen mit Hochtechnologie ist nicht zu loben, sondern zu verurteilen.“
Fluchtwelle übers Meer zu befürchten
Die Tageszeitung Estia sieht neue Herausforderungen für die EU-Staaten im östlichen Mittelmeer:
„Griechenland und Zypern sind mit erheblichen geopolitischen und migrationspolitischen Risiken konfrontiert. Nach den Äußerungen des israelischen Ministers Gallant, dass sich der Krieg in den Libanon verlagern wird, ist es sehr wahrscheinlich, dass Griechenland und Zypern im Winter eine Welle von Flüchtlingen aus diesem Land aufnehmen werden. Die zweite Bedrohung ist geopolitischer Natur. Griechenland und Zypern haben westliche Stützpunkte auf ihrem Territorium errichtet und diese verfügen noch nicht über einen Schutzschirm gegen Raketen, die auf sie abgefeuert werden könnten.“