Orbán nennt Flüchtlingskrise deutsches Problem
Ungarns Premier Viktor Orbán hat bei seinem Besuch in Brüssel am Donnerstag die Flüchtlingskrise als deutsches, nicht europäisches Problem bezeichnet. In Budapest spitzte sich die Lage am Bahnhof Keleti derweil weiter zu. Deutschlands Regierung hat den Sturm auf die Züge mit ihrer Aufnahmebereitschaft ausgelöst, geben Kommentatoren Orbán recht. Andere glauben, dass er mit seiner egoistischen Politik bald auf verlorenem Posten in der EU steht.
Budapest kann es EU-Partnern nicht recht machen
Dass die Lage in Ungarn derzeit so katastrophal ist, muss sich Deutschland anrechnen lassen, verteidigt die konservative Lidové noviny den ungarischen Premier: "Die Antwort auf die Frage, wer die unglückliche Situation verschuldet hat, heißt Deutschland, konkret Angela Merkel. Ihre Ankündigung, dass Deutschland jeden Flüchtling aus Syrien aufnimmt, hat am Budapester Bahnhof tausendfach die freudigen Rufe 'Deutschland, Deutschland!' ausgelöst. Ungarn schickte nach Konsultation mit Berlin volle Züge nach Deutschland. ... Dann aber sagten die Deutschen, die Worte der Kanzlerin waren anders gemeint. ... Ungarn ist um seine Lage nicht zu beneiden. Lässt es Migranten ins Land und damit in die EU, ist das schlecht. Baut es einen Zaun, um die Menschen aufzuhalten, ist es aber auch schlecht. Ermöglicht es den Flüchtlingen die Reise nach Deutschland, macht es einen Fehler. Falsch ist aber auch, die Leute aufzuhalten, um die EU-Gesetze nicht zu verletzen. Niemand ahnt auch nur, wie diese Krise schnell zu lösen ist."
Ungarns Abschottung hat keine Zukunft
Viktor Orbáns egoistische und einwanderungsfeindliche Politik ist zum Scheitern verurteilt, prophezeit die liberale Tageszeitung La Stampa: "Wie viele Tage glaubt Orbán, Migranten auf dem Budapester Bahnhof festhalten zu können, die im Besitz einer regulären Fahrkarte nach Deutschland sind, wo Merkel ihre Aufnahme vorbereitet hat? Der Versuch, mit einer zynischen und eher gefährlichen Operation zu vertuschen, dass der Bau der Mauer an der Grenze zu Serbien sinnlos war, wird für den ungarischen Premier zum Bumerang. Seine Kapitulation ist nunmehr eine Frage der Zeit. Sie wird der Beweis sein, dass es eine Sache ist, damals von den Bänken der Opposition aus die Abschiebung zu predigen und zu fordern, die Grenzen für Migranten zu schließen. Eine andere jedoch, in der Regierung eine solche Politik in die Realität umzusetzen. ... Auf dem nächsten EU-Gipfel wird Orbán wählen müssen zwischen einer angeblichen ungarischen Festung und dem Verlust der Rechte eines EU-Mitgliedstaates. Es dürfte Orbán schwer fallen, seinen Wählern zu erklären, dass die EU-Gelder versiegen."
Orbán missbraucht Flüchtlinge
Die ungarische Polizei hat am Donnerstag einen Zug mit rund 300 Flüchtlingen im Budapester Vorort Bicske gestoppt, um die Menschen in ein Aufnahmelager zu bringen. Offenbar ist die Lage eskaliert, nachdem die Beamten die Passagiere anwiesen, den Zug zu verlassen. Orbán missbraucht die Flüchtlinge, um in Brüssel Druck zu erzeugen, kritisiert der linksliberale Tages-Anzeiger: "Was in den vergangenen Tagen im Budapester Ostbahnhof und was am Donnerstag im Bahnhof Bicske passierte, hat nichts mehr mit der Überforderung staatlicher Organe und mit der fehlenden gemeinsamen Flüchtlingspolitik Europas zu tun. Es ist der eiskalte Versuch, die Europäische Union zu erpressen mit Männern, Frauen und Kindern aus Syrien, Afghanistan, Pakistan. Dass ausgerechnet an jenem Tag, an dem der ungarische Regierungschef Viktor Orbán in Brüssel verhandelte, die Polizei sich plötzlich vom Budapester Ostbahnhof völlig zurückzieht und damit das Chaos zulässt, kann wohl kaum ein Zufall sein. Es muss der Polizei auch bewusst gewesen sein, dass das Gedränge auf den Perrons und an den Waggontüren lebensbedrohlich werden kann. Hier wurde aus politischem Kalkül das Leben der Flüchtlinge aufs Spiel gesetzt."
Osteuropa braucht Hilfe statt Zeigefinger
Obgleich sie Orbáns Flüchtlingspolitik inakzeptabel findet, fordert die linksliberale Tageszeitung Frankfurter Rundschau mehr Unterstützung für die osteuropäischen Länder in der Asylpolitik: "Sich über einen gesellschaftspolitischen Jetlag im Osten Europas zu ereifern, ist das eine. Sich daran zu erinnern, wie lange die deutsche Gesellschaft für diese Entwicklung brauchte, ist das andere. Dazu reicht ein Blick auf die deutsche Asyldebatte von 1993. Europa braucht endlich ein politisches Management der Krise. Es geht nun nicht darum, wie im Falle Griechenlands in der Eurokrise, eine bestimmte Politik durchzudrücken. Die Staaten in Osteuropa brauchen Unterstützung - nicht allein finanziell, sondern auch in praktischen Fragen des Umgangs mit Zuwanderung, von der Schule bis zum interreligiösen Dialog. Deutsche Kommunen könnten sie geben. Es wäre gut, wenn man dabei auch auf eigene Fehler bisheriger Integrationspolitik zu sprechen käme."