EU gibt Camerons Forderungen nach
Großbritannien und alle anderen EU-Mitgliedstaaten sollen das Recht erhalten, Unionsbürgern bis zu vier Jahre Sozialleistungen zu verweigern. Die britische Regierung nahm diesen und weitere Vorschläge von Ratspräsident Tusk weitgehend positiv auf. Doch können sie einen Brexit verhindern?
Brexit-Abstimmung verändert EU in jedem Fall
Ob es nun einen Brexit geben wird oder nicht, die Veränderungen in der EU werden deutlich spürbar sein, analysiert die liberale Tageszeitung Upsala Nya Tidning:
„Das Gewicht der EU auf der internationalen wirtschaftlichen und politischen Bühne würde natürlich bei einem britischen Austritt geschwächt. Die EU-Regierungschefs wollen Cameron deshalb weit entgegenkommen. ... Auch wenn die Änderungen im britischen EU-Vertrag teilweise symbolisch sein werden, so werden sie doch die EU verändern. Geht Großbritannien, wird die Union geschwächt. Bleibt Großbritannien, so werden voraussichtlich die Kräfte gestärkt, die die Union zu einem Projekt der 'zwei Geschwindigkeiten' machen wollen - ein 'innerer' Block, der die Supranationalität weiter treiben will, und eine äußere Gruppe von Ländern, die eine sehr unterschiedliche Anbindung an das Kerngebiet der Union haben werden. Das ist keine Entwicklung, die auf lange Sicht wünschenswert ist. Aber das gilt auch für den Fall, dass Großbritannien geht.“
Brexit-Frage für immer vom Tisch
Ratspräsident Tusk hat mit seinen Vorschlägen die Zauberformel gefunden, die den Briten den Verbleib in der EU ermöglicht, lobt die liberale Tageszeitung Jutarnji list:
„Eine Volksbefragung ist immer risikoreich, aber nun werden die Briten hoffentlich vernünftig sein und nicht den Austritt aus der EU riskieren. So sehr die Union auch in Schwierigkeiten steckt, es gibt einfach zurzeit nichts Besseres. Und so wandelt sich nun die ganze Geschichte vielleicht zu etwas Gutem. Mit dem zu erwartenden positiven Ausgangs des Referendums und dem damit verbundenen Verbleib des Vereinigten Königreiches in der EU verschwindet die Brexit-Frage für immer von der Tagesordnung. Es ist gut, dass ein Weg gefunden wurde, der es den Kontrahenten ermöglicht, das Gesicht zu wahren und damit zugleich die Einheit Europas.“
Notbremse kann Brexit verhindern
Dass die EU mit Hilfe einer "Notbremse" Zuwanderern vorübergehend den Zugang zu Sozialleistungen erschweren will, findet die linksliberale Tageszeitung De Volkskrant grundsätzlich richtig:
„Hoffentlich können die osteuropäischen Mitgliedsstaaten mit den zeitlich befristeten Einschränkungen bei Sozialleistungen ihrer Bürger in Großbritannien leben. Ohne Konzessionen auf diesem Gebiet wäre es fast sicher, dass das Referendum über die britische Mitgliedschaft auf ein Nein hinauslaufen würde. Doch ein Austritt Großbritanniens wäre ein Verlust für die EU. … Die Briten geben den euroskeptischen Gefühlen nicht nur auf ihrer Insel, sondern auch in anderen Ländern eine Stimme. Großbritannien spielt eine wichtige Rolle in der EU, auch als Gegengewicht zum deutsch-französischen Motor der Union. Die Notbremse-Prozedur ist dafür ein gutes Beispiel. Es ist ein Mechanismus, der die Demokratie in der Europäischen Union verstärken wird. “
Wozu London noch in der EU halten?
Der Preis, den die EU offenbar zu zahlen bereit ist, um Großbritannien in der EU zu halten, ist zu hoch, warnt Adelina Marini auf ihrem Blog euinside:
„Es ist bereits so, dass dieses Mitgliedsland den Euro nicht annehmen und nicht an Schengen teilnehmen musste. Es durfte seine Grenzkontrollen beibehalten, darf frei entscheiden, ob es EU-Regelungen im Sicherheits- und Justizbereich befolgt; es muss sich (seit Dezember 2014) nicht an einen Großteil der EU-Gesetzgebung in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen halten. Mit anderen Worten: Großbritannien ist bereits mehr außerhalb der EU als ein Mitgliedsland. Da stellt sich die Frage, ob die EU mit den weiteren Zugeständnissen nicht einen zu hohen Preis zahlt, nur um Großbritannien formell in der EU zu halten.“
EU beschädigt einen ihrer Grundpfeiler
Es ist problematisch, dass die EU ihren Mitgliedstaaten erlauben will, EU-Ausländer für bis zu vier Jahre von Sozialleistungen auszuschließen, meint das wirtschaftsliberale Handelsblatt:
„Der Mann rennt in anderen Hauptstädten offene Türen ein, auch in Berlin. Deutsche Stadtväter möchten Rumänen und Bulgaren genauso gern von ihren sozialen Kassen fernhalten wie der Bürgermeister von London. Es stimmt, dass immer mehr Zuwanderer aus den Armenhäusern der EU hierzulande Hartz IV, Kindergeld oder Sozialhilfe kassieren. Manche schaffen das, indem sie Lücken in der nationalen Sozialgesetzgebung ausnutzen. Diese Lücken endlich zu schließen wäre Aufgabe des deutschen Gesetzgebers. … Die EU zieht es stattdessen vor, einen ihrer Grundpfeiler, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, zu beschädigen. … Rechtlich geht die EU ein beträchtliches Risiko ein. Es könnte durchaus sein, dass der Europäische Gerichtshof es am Ende verbietet, dass diese EU-Ausländer pauschal im Sozialrecht diskriminiert werden.“
Britischer Premier feiert nur Pyrrhussieg
Tusks Vorschläge bedeuten einen Pyrrhussieg für Cameron, schimpft die liberale Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore:
„Es entbehrt nicht einer gewissen tragischen Lächerlichkeit, dass die EU ausgerechnet in Zeiten wiederkehrender Krisen tief erschüttert wird. … Die Möglichkeit eines Brexit treibt die Gemeinschaft an den Rand des Abgrunds und zwar im Namen von ein paar von London geforderten Reformen. Sind diese gut? Einige vielleicht. Unerlässlich? Keine, für niemanden. Auch nicht für Großbritannien und David Cameron, der zum zweiten Mal mit sagenhafter Skrupellosigkeit einen heiklen politischen Streit vom Zaun gebrochen hat. Das Risiko eines Brexit besteht weiter trotz der Reformen. Und Cameron hat nicht einmal die Beute gemacht, die er sich erhoffte: die Versöhnung von EU-Agnostikern und EU-Skeptikern innerhalb seiner konservativen Partei. EU-Fans sind bei den Tories ohnehin seltene Exemplare.“
Die Eurozone ist der Kern Europas
Soll das europäische Projekt fortbestehen, muss man sich auf den harten Kern konzentrieren, rät die linksliberale Tageszeitung Libération:
„Diese erneute Nervenkrise ruft den europäischen Regierenden in Erinnerung, dass der Mythos von einer EU, die im Gleichschritt vorangeht, definitiv beerdigt ist. Das Herz des Gemeinschaftsprojekts ist die Eurozone, die mit 19 Ländern ihre maximale Ausdehnung erreicht hat. Sie gilt es nun dringend zu integrieren und zu demokratisieren, wobei man sich nicht um die restlichen EU-Staaten sorgen sollte. Nur so kann die Eurozone überleben. Wir brauchen eine kopernikanische Revolution: einen neuen Vertrag mit 19 Ländern, der eine föderale Eurozone schafft, ein handlungsfähiges Europa. Auf diese Weise könnte man Großbritannien und seine Nacheiferer daran hindern, Schaden anzurichten. Deutschland ist dazu bereit, doch Frankreich ist nicht im Boot. Und gerade das ist gefährlich, viel gefährlicher als ein Brexit.“
Nur mit Großbritannien ist die EU stark
Die Einschränkung von Sozialleistungen für EU-Migranten ist zwar für Polen schmerzhaft, doch immer noch besser als ein Austritt Londons, findet die liberale Tageszeitung Gazeta Wyborcza:
„Die EU wäre nach einem Brexit wirtschaftlich und politisch wesentlich schwächer - unter anderem auch gegenüber Russland. Sie würde sich dann sogar noch stärker auf ihr Zentrum - die Eurozone - konzentrieren. Dies ginge wiederum zu Lasten derjenigen Länder, die keinen Euro haben und an den wichtigsten Entscheidungen nicht teilhaben können. Und dazu gehört auch Polen. Deshalb ist es gut, dass auch die Regierung von Beata Szydło in der Frage der Arbeitsmigranten Kompromissbereitschaft signalisiert hat. ... Polen muss zwar darum kämpfen, dass die Reformen die Polen und andere Migranten auf der Insel so wenig wie möglich treffen. Doch lautet die nüchterne Rechnung: Es lohnt sich, auf einen Teil der Rechte auf Sozialleistungen zu verzichten und dafür im Gegenzug die EU vor dem Brexit zu bewahren. “
Kontrolle über Grenzen zurückgewinnen
Der Kompromissvorschlag geht nicht weit genug, kritisiert die konservative Tageszeitung Daily Mail:
„Während sich die Politiker groß inszenieren, wird die wahre Gefahr für die Stabilität Europas an den Südgrenzen der EU jeden Tag bedrohlicher. ... In Deutschland, Schweden und Dänemark kam es zu gewaltsamen Demonstrationen, und auf dem ganzen Kontinent hat die Unterstützung für rechtsextreme Parteien massiv zugenommen. Wenn diese Flut an Menschen nicht kontrolliert werden kann, ist die schiere Existenz der EU bedroht. Die einzige Lösung ist eine Begrenzung der Freizügigkeit. Einzelne Staaten müssen wieder eine gewisse Kontrolle über ihre Grenzen zurückgewinnen. Dass diese entscheidenden Fragen nicht einmal diskutiert wurden, ist ein echtes Armutszeugnis für die viel gepriesenen EU-Reform-Verhandlungen.“
London zwingt EU neue Methode auf
Mit ihren Forderungen an die EU hat die britische Regierung einen Präzedenzfall geschaffen, kritisiert die liberale Wirtschaftszeitung L'Echo:
„Europa tut so, als würde es das Drama nicht sehen, das sich vor seinen Augen abspielt: Es bildet sich ein neues Verfahren heraus, um EU-Politik zu betreiben. Bislang gab es zwei Optionen. Die gute: Man schreitet gemeinsam voran und orientiert sich am allgemeinen Interesse der europäischen Bürger (die Kommission schlägt vor, das Europaparlament und die Staaten entscheiden). Die schlechte: Man lässt einige Staaten gemeinsam Verträge ausarbeiten, die sie dann den anderen aufzwingen. Großbritannien ist auf dem besten Weg zu zeigen, dass eine dritte Methode möglich ist: Erpressung. Wie auch immer diese Verhandlungen ausgehen werden - allein die Tatsache, dass sie stattfinden, zeigt, dass jeder Staat die Gemeinschaftsarbeit mit eigenen, undurchsichtigen Partikularinteressen auf den Kopf stellen kann.“
Großbritannien würde den Kürzeren ziehen
Die EU kann einem möglichen Austritt Großbritanniens gelassen entgegensehen, glaubt die liberale Tageszeitung Večer:
„Ein Brexit wird die EU womöglich gar nicht niederschlagen. … Eher wird Großbritannien den Kürzeren ziehen. Denn Schottland, das im Referendum vom Herbst 2014 noch nicht für die Unabhängigkeit gestimmt hat, könnte diese Frage wieder aufwärmen. Die Schotten sind der EU nämlich stärker zugeneigt als die Engländer. Großbritannien, ohne die EU im Rücken, würde so sicherlich leichter der Rolle eines Art US-Pudels erliegen. Würde dann nach 2017 noch irgendjemand berechtigterweise von GROSSbritannien sprechen?“
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