Zehntausende Syrer sitzen an Grenze fest
Nach ihrer Flucht aus dem Kampfgebiet um Aleppo verharren weiter zehntausende Menschen an der syrisch-türkischen Grenze. Die Türkei versorgt sie mit Lebensmitteln und Zelten, lässt sie aber nicht einreisen. Wer ist verantwortlich für das Elend an der Grenze?
Europa muss Luftbrücke nach Aleppo einrichten
Angesichts der schweren Kämpfe um Aleppo sollte eine Gruppe europäischer Staaten innerhalb der nächsten Tage eine Luftbrücke in die Region errichten und zehntausende Menschen nach Europa bringen, fordert die linksliberale Tageszeitung Der Standard:
„[E]ine solche Luftbrücke [wäre] eine Vorleistung und ein starkes Signal des guten Willens an die Türkei. Sie könnte Ankara dazu bewegen, Flüchtlinge, die nahe der Heimat bleiben wollen, über die Grenze zu lassen und endlich die lebensgefährlichen Überfahrten nach Griechenland zu unterbinden und so die Balkanroute effektiv abzuriegeln ... Die Türken mögen schwierige Verhandlungspartner sein, aber die jetzige EU-Position, die Türkei müsse die Aleppo-Flüchtlinge über die Grenze lassen, aber die EU vor Asylwerbern bewahren, ist so verlogen, dass man gut verstehen kann, wenn die Türkei die Schlepper mit ihren Schlauchbooten gewähren lässt.“
Ankara benutzt Flüchtlinge als Schutzschilder
Die Türkei hat in der syrischen Grenzregion zehn Flüchtlingscamps für 100.000 Flüchtlinge errichtet. Damit verfolgt die AKP-Regierung eine neue Strategie, meint die regierungskritische Tageszeitung Sözcü:
„Will die Türkei damit de facto die Sicherheitszone errichten, die sie so sehr anstrebt, aber bisher nicht durchsetzen konnte? Die Region, in der die Türkei die Camps errichtet hat, wird von Dschihadisten-Gruppen kontrolliert, die vom Dreigespann Katar, Saudi-Arabien und Türkei unterstützt und der internationalen Gemeinschaft als 'moderate Kräfte' angepriesen werden. Aber der Kreis wird enger. Wenn die in Richtung Norden vorrückenden Assad-Truppen die türkische Grenze erreichen oder die überwiegend kurdischen Kräfte des PYD-kontrollierten Afrin im Westen sich in diese Region ausweiten, werden die Zivilisten in den Camps zum offenen Ziel, oder aus Ankaras Sicht, zum 'menschlichen Schutzschild'.“
Türkei in Flüchtlingskrise im Stich gelassen
Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat die Türkei aufgerufen, ihre Grenzen für Flüchtlinge aus dem Kampfgebiet um Aleppo zu öffnen. Doch außer Ankara wird niemand in der Region in die Pflicht genommen, wundert sich die regierungstreue Tageszeitung Star:
„Warum etwa nimmt Saudi-Arabien nicht einen Teil der Migranten auf? Gibt es keinen Platz oder ist man ärmer als die Türkei? Der Irak ist selbst als schutzbedürftiger alter Mann zu betrachten, der außen vor gelassen werden kann. Aber für den Iran kann man das nicht behaupten. Die Frage, warum der Iran keine Flüchtlingscamps errichtet, nicht einmal einen Teil willkommen heißt, kommt niemandem in den Sinn. ... Die UN-Vertreter, die zigmal die Camps in der Türkei besuchten, erklärten ständig, dass dort sehr gute Arbeit geleistet würde. Das soll heißen: 'Bravo, weiter so, macht das, was eigentlich wir tun müssten.' Hätten wir doch niemanden eingeladen und unsere Camps nicht gezeigt.“
Moskau treibt Syrer in die Flucht
Die Massenflucht aus Aleppo ist eine verheerende Folge der russischen Luftangriffe, betont Lorenzo Cremonesi, derzeit im türkischen Grenzort Öncüpınar, im liberal-konservativen Corriere della Sera:
„Ohne Moskaus Unterstützung erst des Irans und nun der regionalen Schiiten wäre das Regime von Bashar al-Assad längst gestürzt worden. Seit den russischen Luftangriffen, die im September begannen und Mitte Januar intensiviert wurden, hat sich das Blatt weiter zu seinen Gunsten gewendet. Assad steht kurz vor dem Sieg. Denn die russischen Angriffe weisen eine Eigentümlichkeit auf: Sie richten sich nur gegen die gemäßigten sunnitischen Milizen. Die Terrormiliz IS, die Moskau als Vorwand für seinen Militäreinsatz diente, ist bisher so gut wie nie getroffen worden. Und all dies passierte, während in Genf die UN-Syrien-Gespräche begannen. Mit Worten hieß Moskau die Friedensbemühungen gut, mit Taten setzt es unerbittlich den Krieg fort, wovon die Flüchtlinge zeugen. Moskau geht dabei straffrei aus: die USA bleiben passiv, Europa rührt keinen Finger.“
EU kann Verantwortung nicht auf Türkei abwälzen
Die EU kann und darf nicht auf die Türkei als Pufferzone setzen, mahnt die konservative Tageszeitung El Mundo:
„Mit der starken Repression des türkischen Militärs gegen die PKK-Milizen in den Regionen mit kurdischer Mehrheit ist ein zusätzliches Problem von internen Vertriebenen hinzugekommen, die aus den Konfliktzonen fliehen und die Flüchtlingskrise in dem Land noch verstärken. Europa sollte deshalb klar sein, dass es sich nicht darauf verlassen kann, dass die Türkei wie eine Pufferzone den Flüchtlingsstrom von unserem Territorium abhält. Stattdessen muss die EU eine gemeinsame Politik aller Mitgliedsstaaten koordinieren. Die Lösung kann nicht darin bestehen, die Verantwortung auf unsere Nachbarn abzuwälzen, schließlich will sich die Mehrheit der Flüchtlinge in Europa niederlassen.“
Türkei muss Grenze öffnen, EU finanziell helfen
Die Regierung in Ankara und die EU stehen gleichermaßen in der Pflicht, den Flüchtlingen aus Aleppo zu helfen, mahnt die konservative Tageszeitung The Times:
„Für die EU und Ankara muss es jetzt die größte Priorität haben, auf ihrem bestehenden Drei-Milliarden-Euro-Flüchtlingshilfsprogramm aufzubauen, um eine Öffnung des Grenzübergangs bei Öncüpınar zu ermöglichen, wo sich die in die Enge getriebenen Flüchtlinge sammeln. Türkische Minister haben gestern erklärt, dass sie nicht in der Lage sind, Flüchtlingen den Grenzübertritt zu verweigern. Und doch tun sie das und verstoßen damit gegen die Genfer Konvention. ... Präsident Recep Tayyip Erdoğan muss verstehen, dass er eine Pflicht gegenüber diesen Flüchtlingen hat. Europa muss seinen Wohlstand nutzen, um ihm zu helfen. Und Russlands Präsident Wladimir Putin muss erkennen, dass er mit dem Feuer spielt.“
Assad-Regime mörderischer als IS
Vor allem Europa muss sich federführend um eine Friedenslösung für Syrien bemühen, mahnt die linksliberale Tageszeitung De Morgen:
„Europa ist besser als alle anderen in der Lage, die überaus schwierigen Friedensgespräche zu Syrien zu leiten. Bedingung dafür ist aber, dass wir zumindest zeitweilig unsere Besessenheit, was den Islamischen Staat betrifft, unter Kontrolle bringen. Wir müssen einsehen, dass nicht der IS, sondern das Assad-Regime zurzeit die mörderischste Kraft in Syrien ist und daher der Hauptverantwortliche für die Flüchtlingsströme. Mit europäischen Bomben auf IS-Ziele werden wir das Ende des Kriegs nicht beschleunigen. ... Mogherini, Hollande, Merkel und warum nicht auch unsere eigenen belgischen Spitzendiplomaten haben eine Chance, dem vorherrschenden europäischen Defätismus ein Ende zu bereiten und das zu tun, was Europa am besten kann: Nicht Krieg führen, sondern Frieden schaffen.“