Was bringt Merkels Besuch in Ankara?
Während weiterhin zehntausende Syrer an der Grenze zur Türkei festsitzen, hat Angela Merkel mit der türkischen Führung über die Flüchtlingskrise beraten. Doch die Türkei kann das Problem nicht für Europa lösen, betonen Kommentatoren und bedauern, dass die EU nicht mehr in der Position ist, Ankara Kontra zu geben.
Europa muss selbst handeln
Europa darf sich nicht auf Ankara verlassen und muss das Heft des Handelns in der Flüchtlingskrise selbst in die Hand nehmen, empfiehlt die liberal-konservative Tageszeitung Die Presse:
„Unerlässlich ist dabei eine effektive Überwachung der Außengrenze. Angesichts der offenen Binnengrenzen wäre es nur folgerichtig, wenn die EU diese Aufgabe gemeinsam erledigte und nicht Griechenland überließe. Zweitens muss Europa die Nachbarn Syriens, die Millionen Flüchtlinge beherbergen, großzügiger unterstützen. ... Drittens sollte die EU, wenn sie ihren Idealen und dem Völkerrecht treu bleiben will, weiter Flüchtlinge aufnehmen, doch kontrolliert und maßvoll, um die eigene Gesellschaft nicht zu überfordern. Und viertens muss die EU lernen, im nahöstlichen Vorfeld sicherheitspolitisch zu agieren. Doch das wird am längsten dauern. Merkel wird weitaus weniger Zeit bleiben, um das Problem in den Griff zu bekommen. Ob mit oder ohne Türkei.“
EU ohne jede Strategie
Der dritte Türkei-Besuch von Angela Merkel innerhalb von vier Monaten zeigt, wie planlos die EU in der Flüchtlingskrise dasteht, erklärt die liberale Internetzeitung Radikal:
„Die EU hat beim Thema Flüchtlinge keine Strategie, keine Politik gefunden. Man will bloß, dass die Flüchtlinge nicht an die EU-Grenzen gelangen und in der Türkei gehalten werden. Und das will man mit dem Versprechen von drei Milliarden Euro Budgethilfe erreichen, das noch immer bloß ein Versprechen ist. ... Die Flüchtlingskrise ist für die EU und Deutschland von so großer Bedeutung, dass die EU-Führer und natürlich auch Merkel von den Themen Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz, die früher so viel kommentiert wurden, überhaupt nicht mehr sprechen - aus Angst, Premier Ahmet Davutoğlu und Präsident Tayyip Erdoğan zu erzürnen.“
Moralische Autorität verspielt
Künftig wird sich Europa zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei kaum noch äußern, glaubt der öffentlich-rechtliche Deutschlandfunk:
„Der jetzige Merkel-Besuch in Ankara war dafür das beste Beispiel. Klare Worte zu klaren Menschenrechtsverletzungen fehlten. In diese Lage aber hat die EU sich selber hineinmanövriert. Ein Kontinent, der nicht in der Lage ist, vor Bomben fliehende Menschen fair untereinander aufzuteilen, kann einem Land, das bereits an die drei Millionen Schutzsuchende beherbergt, kaum Menschenrechts-Lektionen erteilen. Und die EU kann Ankara auch bezüglich der Aleppo-Flüchtlinge kaum Vorschriften machen. Der Türkei zu empfehlen, diese Grenze zu öffnen, gleichzeitig aber die zu Europa zu versiegeln, wäre hochgradig doppelzüngig. Das Beispiel Türkei beweist ... wie der Friedensnobelpreisträger gerade dabei ist, jegliches moralisches Gewicht einzubüßen.“
Athen hat offenbar nichts mehr zu melden
Athen wird völlig übergangen, klagt nach dem Besuch Merkels in der Türkei die liberale Online-Zeitung To Vima:
„Nun schafft sich Griechenland auch im Hinblick auf die Hoheit über seine Außengrenzen ab. ... Unser 'Freund und Verbündeter' Deutschland und unser anderer, noch besserer 'Freund' und noch engerer 'Verbündeter' - die Türkei -, umgehen Athen und treffen bilateral Entscheidungen, um das Flüchtlingsproblem zu lösen. … Sicher ist, dass nach den Flüchtlingen selbst das nächste große Opfer Griechenland ist. Unser Land wird 'ertrinken' - irgendwo in der Ägäis, die unter eine Art multinationale Kontrolle mit den Deutschen und den Türken in der Hauptrolle fällt, und an den Grenzen der Republik Mazedonien, wo sich die europäischen Κräfte von Griechenland abschotten werden. Existiert Griechenland eigentlich noch?“