Kann Cameron Großbritannien in der EU halten?
Die Briten sollen am 23. Juni über den Verbleib in der EU abstimmen. Großbritannien und die EU-Partner einigten sich zuvor auf Kompromisse zu Londons Reformforderungen. Kann die Europa-kritische Stimmung auf der Insel eingedämmt werden?
Labours Werben für EU könnte Cameron retten
Die oppositionelle britische Labour Party hat sich am gestrigen Donnerstag nach langem Zögern gegen den Brexit positioniert. Das könnte vor allem pro-europäische Jungwähler motivieren, am Referendum teilzunehmen, analysiert die konservative Tageszeitung The Daily Telegraph:
„Um sein Referendum zu gewinnen und sein Amt zu behalten, braucht der Premier die Stimmen jener Menschen, die eher auf Labour-Chef Jeremy Corbyn als auf ihn hören: Die Jungen. ... Für Cameron ist es entscheidend, dass junge, nach links tendierende Pro-Europäer in so großer Zahl an der Abstimmung teilnehmen, dass sie die Stimmen der [tendenziell EU-kritischen] älteren Generation ausgleichen. Anders gesagt, benötigt er genau jene Gruppe von Menschen, von denen Ex-Labour-Chef Ed Miliband dachte, dass sie ihn bei der Parlamentswahl vor einem Jahr zum Regierungschef machen würden. Dass diese letztlich nicht wählen gingen, freute Cameron damals. Nun droht ihm das gleiche Schicksal.“
Malta braucht den starken Partner
Der Brexit würde Malta hart treffen, warnt die liberal-konservative Tageszeitung The Malta Independent:
„Wenn Großbritannien die EU verlässt, verliert Malta einen wichtigen Verbündeten an vielen Fronten. Am stärksten betrifft dies den Finanzsektor, wo Malta und Großbritannien bisher erfolgreich die Besteuerung von Finanztransaktionen abgewehrt haben. Nach dem Brexit könnte es für Malta deutlich schwieriger werden, dem Druck größerer Staaten auf dem Kontinent zu widerstehen. ... Es versteht sich von selbst, dass eine fortgesetzte britische Mitgliedschaft in der EU ein wichtiges Gegengewicht zur Vorherrschaft Deutschlands und vielleicht auch Frankreichs darstellt. Ein Europa ohne Großbritannien ist kein echtes Europa.“
Arbeitnehmer in der EU besser aufgehoben
In der Brexit-Debatte darf nicht übersehen werden, dass die Arbeitnehmer ihre Rechte innerhalb der EU besser geltend machen können als außerhalb dieser, mahnt der linksliberale Guardian:
„Die Schwachstellen in dem Konzept der Einheitswährung dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass dessen ungeachtet eine grundlegendere wirtschaftliche Wahrheit gilt: Nämlich die, dass sich Arbeitnehmer gegenüber Unternehmen, die nationale Grenzen leicht überwinden können, besser behaupten können, wenn sie durch Rechte gestärkt werden, die ebenfalls grenzübergreifend gelten. In der Diskussion darüber, wie man Wachstum generiert, kann jeder glauben, was er will. Doch wenn es darum geht, die Wirtschaft menschenfreundlicher zu gestalten, könnte das Pro-EU-Argument der Trumpf sein – wenn er doch nur ausgespielt werden würde.“
Brexit würde Sprachenproblem lösen
Der Austritt Großbritanniens wäre für die Europäische Union generell ein schwerer Verlust - mit Blick auf die Verhandlungssprache Englisch könnte der Brexit jedoch einen Vorteil bringen, findet der Wirtschaftspolitologe Josep M. Colomer in der linksliberalen Tageszeitung El País:
„Eine EU ohne Großbritannien stünde international kleiner, deutscher, konservativer und schwächer da. Das einzige, woraus sich die Europäer vielleicht einen Vorteil versprechen könnten, wäre die Tatsache, dass die englische Sprache ohne die Briten am Tisch definitiv zur neutralen Verhandlungssprache würde. Alle EU-Mitglieder würden Englisch mit demselben Handicap einer Zweitsprache sprechen. Dieser kleine und bittere Trost lässt sich in etwa mit einer leckeren Torte vergleichen, die einem die Ex-Frau serviert, nachdem sie sich zuvor von einem getrennt hat.“
Brexit wäre Todesstoß für Neoliberalismus
Warum ein Brexit die EU sozialer machen würde, erklärt der Kulturhistoriker Thomas von der Dunk in der linksliberalen Tageszeitung De Volkskrant:
„Gerade der Neoliberalismus ist eine Hauptursache der Probleme in Europa: Es verliert die Unterstützung seiner Bürger. Europa steht nach einem Vierteljahrhundert dogmatisch neoliberaler Politik für das Gegenteil des Versorgungsstaats. Es steht für Flexibilisierung, Privatisierung und die Aufgabe fundamentaler Sicherheiten. Die Briten blockieren ständig einen sozialeren Kurs, mit dem Europa seine Bürger zurückgewinnen könnte. ... Die europäische Bevölkerung hat mehr als genug von dem neoliberalen Prinzip, das zeigen die Wähler-Aufstände von Frankreich (Le Pen) bis Spanien (Podemos). Wenn der Neoliberalismus den Todesstoß bekommt, dann könnte das mit Blick auf ein sozialeres und damit stabileres Europa ein Segen sein.“
Brexit brächte Briten neue Flüchtlingswelle
Sollte Großbritannien aus der EU austreten, könnte Frankreich seine Grenzkontrollen vor dem Eurotunnel in Calais beenden, warnte Wirtschaftsminister Emmanuel Macron vor dem gestrigen britisch-französischen Gipfel in Amiens. Das ist in der Tat ein realistisches Szenario, bemerkt die konservative Tageszeitung Financial Times:
„Die britischen Wähler täten gut daran, Macrons Warnung nicht zu ignorieren. Ein Abkommen, das dazu führte, dass sich tausende Asylbewerber rund um Calais versammelt haben, ist bei Frankreichs Öffentlichkeit wohl kaum beliebt. Sollte es zum Brexit kommen, würde es für die Politiker in Paris schwierig, eine Vereinbarung zu verteidigen, deren Hauptzweck darin besteht, eine Grenze zu einem Nicht-EU-Staat zu schützen. Angesichts der starken Umfragewerte des rechtsextremen Front National stünde Präsident François Hollande unter enormem Druck, die Briten für den Brexit zu bestrafen. So hat er am Donnerstag selbst gesagt: 'Es wird Konsequenzen geben.'“
Großbritannien gibt EU Chance für Neustart
Der liberale EU-Abgeordnete und frühere belgische Premier Guy Verhofstadt weist in der linksliberalen Tageszeitung Le Monde den Vorwurf zurück, die Einigung mit David Cameron habe den Weg zu einem Europa freigemacht, in dem sich jeder etwas wünschen kann:
„Wir haben bereits ein Europa à la carte! … Es ist nicht mal mehr ein Europa à la carte, sondern ein maßgeschneidertes! Die Einigung wird es ermöglichen, das gesetzliche Chaos zu beenden, das Europa für unsere Mitbürger so unverständlich macht. Großbritannien wird - wenn auch sicherlich unwillentlich - eine Gelegenheit für eine Generalrevision der Verträge bieten. Erstmals seit 2007 wird dies von den Staats- und Regierungschefs offiziell in Aussicht gestellt, wobei es nicht nur darum geht, die Maßnahmen zu integrieren, die London zufrieden stellen sollen, sondern auch darum, die Funktionsweise der EU und der Eurozone von Grund auf zu überarbeiten. Dann ist Schluss mit dem Europa à la carte.“
Brexit-Abkommen ist Sargnagel der Union
Die Einigung zwischen Großbritannien und Brüssel ist unabhängig vom Ausgang des Referendums im Juni der Sargnagel der EU, findet die liberale Tageszeitung Público:
„Es handelt sich um eine Vereinbarung, die erneut gezeigt hat, dass es innerhalb der EU einfach keine Gleichstellung gibt und dass unterschiedliche Rechte für die einzelnen Mitgliedstaaten gelten. Das Abkommen beweist, dass jedes in den Verträgen verankerte Prinzip einfach ignoriert oder abgeändert werden kann, wenn es dem Wohle eines reichen und mächtigen Mitgliedsstaates dient. ... Es ist aber nicht nur der Inhalt dieses Abkommens (ob und wie es umgesetzt werden soll, weiß noch niemand), der verdeutlicht, wie sehr die EU bereit ist, auf etwas so Grundlegendes wie das Prinzip der Gleichheit zwischen den Mitgliedstaaten zu verzichten. Es ist auch die Art und Weise wie diese Verhandlungen geführt wurden.“
Kommt nach Brexit der Čexit?
Tschechiens Premier Bohuslav Sobotka hat sich am Dienstag in einem Interview besorgt gezeigt, dass ein möglicher Brexit eine Kettenreaktion in Europa auslösen könnte und etwa auch sein Land den EU-Austritt forcieren könnte. Seine Befürchtungen sind durchaus berechtigt, glaubt die linke Tageszeitung Pravo:
„Das Bewusstsein, dass uns die EU eine Menge bringt, ist bei uns laut Umfragen nicht gerade ausgeprägt. ... Emotionen ist durch Fakten schwer beizukommen. Nach einem Brexit werden auch Politiker bei uns lauter sagen: Gehen wir, es wird besser so. Der Austritt aus der EU könnte so zum Thema der Parlamentswahlen 2017 werden. ... Der gesunde Menschenverstand sagt aber etwas anderes: Außerhalb der EU werden wir es nicht besser haben. Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem auch der Traum von einer neutralen Tschechoslowakei im August 1968 enden musste. Sobotka formulierte es klar: Je weniger EU, desto mehr Russland.“
Britische Großmachtsträume sind naiv
Die Briten wären dumm, wenn sie sich wirtschaftlich mächtig wähnen und deshalb am 23. Juni für den Brexit stimmen, glaubt die Wirtschaftszeitung Dienas bizness:
„Da Großbritannien ein Staat mit langjährigen demokratischen Traditionen und sein wirtschaftlicher Beitrag für Europa nicht unbedeutend ist, würde sein Austritt die EU durchaus schwächen. Dennoch würden die Briten die großen Verlierer sein. Denn obwohl sie noch immer von ihrer vergangenen Großmacht träumen, ist Großbritannien nur in militärischer Hinsicht wirklich mächtig. Wirtschaftlich ist das Land nur Durchschnitt: ... China hat die frühere koloniale Großmacht längst überholt. Und bald werden auch Indonesien und Brasilien Großbritannien überflügeln.“
Zugeständnisse an Cameron waren unerlässlich
Lob für ihre Anstrengungen, Großbritannien in der EU zu halten, bekommen die Teilnehmer des EU-Gipfels von der linksliberalen Tageszeitung Le Monde:
„War es von den 27 richtig, David Cameron das zuzugestehen, was er verlangt hat? Diesen Sonderstatus, der dem konservativen britischen Premier erlaubt, das Versprechen einzuhalten, das er den Briten vor dreieinhalb Jahren gegeben hat, ein Referendum über die Mitgliedschaft des Landes in der EU? Die Antwort lautet Ja. Ein Austritt Großbritanniens, der zweitstärksten Volkswirtschaft der EU nach Deutschland und vor Frankreich, würde der Gemeinschaft einen Schlag versetzen, der angesichts ihres bereits fortgeschrittenen Zerfalls fatale Folgen haben kann. Verliert Europa eines seiner wenigen Mitglieder, das noch über einen echten Militärapparat und eine umfassende Außenpolitik verfügt, würde dies die Gemeinschaft drastisch schwächen und dies in einer Phase, in der sie in der chaotischen Globalisierung mit enormen Herausforderungen konfrontiert ist.“
Briten werden ihre Wirtschaft nicht opfern
Die Briten werden aus wirtschaftlichen Gründen für den Verbleib in der EU stimmen, schreibt der Londoner Ökonom und Unternehmer Anatole Kaletsky in der Wochenzeitung Finanz und Wirtschaft:
„Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im Zuge des EU-Austritts wären enorm. Das Hauptargument der Brexit-Kampagne - Grossbritanniens grosses Handelsdefizit sei seine Stärke, da die EU bei einem Einbruch der Handelsbeziehungen mehr zu verlieren habe - ist falsch. Grossbritannien müsste für seine Service-Branchen den Zugang zum europäischen Markt neu verhandeln. EU-Produzenten hingegen könnten ihre Waren unter den Regelungen der Welthandelsorganisation WTO nach Belieben und ohne jegliche Einschränkungen in Grossbritannien verkaufen. ... Grossbritannien bräuchte also ein Assoziierungsabkommen mit der EU, ähnlich wie dasjenige der Schweiz oder Norwegens, der einzigen beiden bedeutenden Volkswirtschaften Europas ausserhalb der EU. Aus Sicht der EU müssten die Bedingungen eines solchen Abkommens mindestens ebenso strikt sein wie diejenigen der bestehenden Assoziierungsverträge.“
Fauler Kompromiss stärkt Austrittsbefürworter
Die EU und David Cameron haben eine historische Chance verpasst, die Union grundlegend zum Besseren zu verändern, klagt die konservative Tageszeitung Daily Mail:
„Die Tragödie besteht darin, dass die Reformverhandlungen eine einmalige Gelegenheit boten, die unzähligen strukturellen Probleme der EU anzugehen, durch die deren überregulierte Unternehmen den internationalen Konkurrenten schutzlos ausgeliefert sind. Doch die Euro-Elite hat sich entschieden, den gewohnten Gang weiterzugehen, sie spielte tricksend mit dem Kleingedruckten herum, während der Gründungsvertrag von Rom in Flammen steht. Eines ist klar: Nichts von dem, was in Brüssel vereinbart wurde, wird auch nur einen einzigen Wähler dazu bewegen, vom Lager der EU-Austrittsbefürworter zu dem der EU-Anhänger zu wechseln. Vielmehr könnte es einige Menschen dazu bewegen, den umgekehrten Weg einzuschlagen.“
Cameron hat die EU schon ruiniert
Cameron hat der EU irreparablen Schaden zugefügt - unabhängig vom Ausgang des Referendums, analysiert die konservative Tageszeitung Le Figaro:
„Wenn Großbritannien zu den Bedingungen, die ihm eingeräumt werden, in der EU bleibt, tötet es die Union. Wenn das Land austritt, tötet es sie ebenfalls. Im Falle eines Brexit wäre der politische und wirtschaftliche Rückschlag brutal. Auch wenn die frisch errungene Einigung die Scheidung verhindern kann, wird trotzdem ein langsamer Rückbauprozess in Gang gesetzt. Da es kein gemeinsames Projekt gibt, um der EU neuen Schwung zu geben, setzt der Brüsseler Kompromiss den Wurm in die Frucht: Für niemanden gibt es mehr einen Grund, sich an die gemeinsamen Regeln zu halten, weil man sich diesen durch ein bisschen Erpressung entziehen kann.“
Auf dem Weg zum "Neverendum"
Die Volksabstimmung über den Verbleib in der EU diente von Anfang an Camerons Machterhalt, doch hat er sich damit politisch verrechnet, meint die rechts-konservative Basler Zeitung:
„Cameron war nie ein Reformer der EU und ist es auch in den seit letztem Sommer laufenden Verhandlungen nicht geworden. Sein Ziel war nicht eine neue EU, sondern ein paar Zugeständnisse, um das angekündigte Referendum über einen Verbleib Grossbritanniens in der EU zu gewinnen. Es geht ihm um die Erhaltung seiner Macht. Mit dem Referendum hielt er seine konservative Partei zusammen und erreichte letzten Mai den Wahlsieg, der ihn bis 2020 zum britischen Premier macht. ... Die bloss kosmetischen Korrekturen im Verhältnis von Grossbritannien mit der EU werden Ende Juni kaum zu einem klaren Ergebnis an der Urne führen. Bleiben die Briten aber nur knapp in der EU, droht ein 'Neverendum'. Dann wird gerade in Camerons Partei die Forderung erst recht laut, dass schon in einigen Jahren eine neue Abstimmung durchgeführt wird.“
Britische Debattenkultur vorbildlich
Die Aussichten für ein Ja der Briten zum Verbleib in der EU scheinen auf den ersten Blick nicht groß zu sein, wenn sich schon Kabinettsmitglieder von Premier David Cameron absetzen, analysiert die konservative Tageszeitung Lidové noviny, ist aber zuversichtlich, dass Cameron alles unter Kontrolle hat:
„Es handelt sich um eine Art gelenkter Opposition. Als in Deutschland die Flüchtlingskrise begann, stellte sich die ganze politische Klasse hinter Angela Merkel und ihre Willkommenskultur. Und dann staunte man, wie stark die Antisystempartei AfD und die Protestgruppe Pegida wurden. Cameron hält die Debatte über das Für und Wider zur EU in seiner eigenen Partei. Als sich Justizminister Gove für den Brexit aussprach, sagte Cameron einfach: 'Schade, dass mein enger Freund im anderen Lager argumentieren wird. Wir werden aber die Position des Anderen gegenseitig respektieren.' Allein diese Debattenkultur ist ein Grund dafür, dass Großbritannien in der EU bleiben sollte.“
Gipfel war eine einzige Show
Die Dramatik und proklamierte Ungewissheit des EU-Gipfels war reine Inszenierung und das Ergebnis stand schon vorher fest, kritisiert die linksliberale Tageszeitung Jutarnji list:
„Tatsächlich wurde mehr Zeit über die Flüchtlingskrise diskutiert, als über den Brexit. Die Dramatik und Ungewissheit beim gemeinsamen Abendessen gab es nicht wirklich, wie der Tweet der litauischen Präsidentin zu Beginn des Dinners beweist. Angela Merkel hielt sich verabredet die ganze Zeit zurück und hatte sogar Zeit, das Tagungsgebäude zu verlassen und sich zwischendurch Pommes zu holen. ... Der Gipfel war eine Inszenierung, damit Cameron zu Hause seinen Sieg in Brüssel verkünden kann, obwohl ihm das, was er nun als Siegesbeute verkauft, niemals wirklich verwehrt worden war. Das war alles Show, doch jetzt muss er zu Hause die wahre Schlacht führen.“
Mehr Meinungen