Boris Johnson wirbt für Brexit
Londons Bürgermeister Boris Johnson hat angekündigt, sich für den Austritt Großbritanniens aus der EU stark zu machen. Damit will er vor allem seine Chance auf das Premiersamt verbessern, unterstellen ihm Kommentatoren. Andere fürchten, dass ein Brexit durch die Entscheidung des beliebten Politikers wahrscheinlicher wird.
Ein Brexit wäre ganz im Sinne des Kreml
Auch wenn der Londoner Bürgermeister das Brexit-Lager stärkt, sind die Risiken eines Austritts Großbritanniens aus der EU nicht von der Hand zu weisen, bemerkt die liberal-konservative Tageszeitung Postimees:
„Die Devisenmärkte haben auf die Kampagne des Londoner Bürgermeisters Boris Johnson für den Austritt aus der EU mit einem Kursfall reagiert - nicht nur, weil die Abspaltung für die britische Wirtschaft in der jetzigen Lage schädlicher wäre als ein Verbleib in der EU, sondern auch, weil die Abspaltung viele Unwägbarkeiten mit sich bringt. ... Diese betreffen auch Russland. Die Analyse [des Publizisten und Propagandaforschers] Ben Nimmo über die Brexit-Berichterstattung der russischen Medien lässt keinen Zweifel, dass die Abspaltung Großbritanniens von der EU ganz im Sinne des Kreml wäre.“
Kein Wunder, dass Briten Euroskeptiker sind
Es ist nicht schwer zu verstehen, warum die Werbung von Boris Johnson für den Brexit in Großbritannien auf fruchtbaren Boden fällt, erklärt die liberale Tageszeitung Lietuvos rytas:
„Sogar in den Ländern Mittel- und Osteuropas, die eine finanzielle Unterstützung von der EU bekommen, gibt es genug Euroskeptiker. ... Noch leichter ist es, die Unzufriedenheit in den Geberstaaten zu schüren. Es ist logisch, dass sich gerade Großbritannien als schwächstes Glied der EU-Kette erwiesen hat. Die Briten fühlen sich historisch vom kontinentalen Europa etwas abgetrennt, sie haben sich später der Gemeinschaft angeschlossen, ihre transatlantischen Beziehungen mit den USA sind besonders stark. Unter diesen Umständen tendieren die Menschen zum Glauben, dass Großbritannien viel abgeben muss, jedoch wenig von der EU-Mitgliedschaft bekommt.“
Churchill wäre weitsichtiger gewesen
Angesichts der globalen Herausforderungen, denen sich Europa gegenüber sieht, ist die Entscheidung Boris Johnsons kleingeistig und engstirnig, klagt die konservative Tageszeitung Financial Times:
„Ein moderner Winston Churchill, was Johnson ja offensichtlich sein möchte, würde sofort verstehen, dass Großbritanniens Entscheidung über einen Verbleib in der EU als Teil eines größeren globalen Gesamtzusammenhangs gesehen werden muss. Und dieser ist äußerst besorgniserregend. Russland hat wieder Geschmack am Krieg gefunden, der Nahe Osten ist in Auflösung begriffen, gewalttätiger Dschihadismus befindet sich auf dem Vormarsch. China zeigt im Pazifik seine Muskeln und die USA liebäugeln mit dem Irrsinn des 'Trumpismus'. ... Angesichts all dessen ist es deprimierend engstirnig von Johnson, sein Eintreten für den Brexit teilweise damit zu begründen, dass Großbritannien ein bisschen Geld sparen kann, weil es weniger EU-Beitragszahlungen leisten muss.“
Johnson macht EU-Austritt wahrscheinlicher
Dass Johnson sich auf die Seite der EU-Gegner geschlagen hat, macht einen Brexit wahrscheinlicher, fürchtet die konservative Tageszeitung Die Welt:
„Seine Argumente haben die Verführungskraft einer simplen Botschaft: Die Europäische Union, unreformierbar in ihrem jetzigen Zuschnitt, steht dem Souveränitätsstreben des Landes im Wege. ... Die britische Demokratie lebt besonders stark von der Nabelschnur zwischen Volksvertretern und Wählern. Entscheidungsträger auf europäischer Ebene, die man nicht gewählt hat, werden als fremd und anstößig empfunden. ... Nirgendwo in Europa wird die Demokratiefrage so scharf unter das Souveränitätsmikroskop gelegt wie auf der britischen Insel. Sie hat sich ein Gefühl von nationaler Eigenart bewahrt, das sogar den Sprung in die Selbstständigkeit wagen würde. Auf diese Eventualität muss sich eine ohnehin schon angeschlagene EU jetzt einstellen.“
Brexit als Fahrstuhl zur Macht
Das offene Eintreten des Londoner Bürgermeisters für den Austritt Großbritanniens aus der EU könnte ihn letztlich zum neuen Premier machen, meint die wirtschaftsliberale Tageszeitung Hospodářské noviny:
„Der joviale Londoner Bürgermeister ist sehr beliebt. Er hat den Ruf, sich zu allem zu äußern, auch wenn das mit seinem Amt, der Partei oder seinen Fähigkeiten nichts zu tun hat. Ein früherer Labour-Minister bezeichnete Johnson als 'intelligenteren Donald Trump' und liegt damit nicht völlig daneben. ... Andererseits gilt er nicht als überzeugter EU-Skeptiker. Er sieht den Brexit vielmehr als Fahrstuhl zur Macht. ... Sollten die Briten sich am 23. Juni für den Ausstieg aus der EU entscheiden, was nicht ausgeschlossen ist, müsste Cameron als Premier mit Sicherheit gehen. Das Vereinigte Königreich könnte sich schon jetzt an einen blonden Ministerpräsidenten mit russisch klingendem Namen gewöhnen.“
Londons Bürgermeister ist unglaubwürdig
Die Unterstützung des Londoner Bürgermeisters für die Brexit-Kampagne wirkt ziemlich kalkuliert, findet die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung:
„Allzu durchsichtig ist Johnsons Kalkül, den Brexit als persönliches Vehikel nach Downing Street zu nutzen. Eine Abstimmungsniederlage Camerons im Juni könnte gemäss dieser Logik die Parteiführung und damit das Premierministeramt für seinen prominentesten Gegenspieler freiräumen, nach denen der von unbändigem Ehrgeiz getriebene Johnson schon lange die Hand ausstreckt. ... [Es] überrascht nicht, dass Johnson sogleich ein Defizit an politischer Glaubwürdigkeit vorgehalten wurde. Warum ignoriert er plötzlich die Finanzinteressen der Londoner City, die sich mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausspricht? Warum hat er sich so lange bedeckt gehalten, wenn er doch ein derart grundsätzlicher EU-Gegner ist, wie er am Montag in seiner Zeitungskolumne des Daily Telegraph erklärt hat?“
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