Flüchtlingsfrage: Europa läuft die Zeit davon
Ein Land nach dem anderen schließt seine Grenzen und eine gemeinsame Antwort Europas auf die Flüchtlingskrise ist nicht in Sicht. In Griechenland sammeln sich tausende Migranten, die nicht nach Mazedonien weiterreisen können, bei Idomeni setzten mazedonische Sicherheitskräfte Tränengas ein. Kommentatoren warnen vor einer Implosion Griechenlands und sehen den Kontinent in eine Massenpanik verfallen.
Europa steht vor der Wahl: Merkel oder Orbán?
Durch die Schließung der Grenzen innerhalb der EU droht Griechenland zu implodieren, warnt die linksliberale Tageszeitung De Morgen:
„Immer mehr Flüchtlinge werden sich an der Grenze zu Mazedonien versammeln und gezwungen sein, durch die harten Witterungsumstände Lager zu errichten. Nach einer Weile werden sie durch Kälte, Hunger und Frustration so wütend sein, dass sie Zollbeamte und Soldaten angreifen und die Grenzen stürmen werden. ... Das Chaos im Vorhof von Europa wird weiter zunehmen. ... Aber das Echo auf Merkels Hilferuf ist erneut höhnisches Gelächter: vom ungarischen Premier Viktor Orbán und in Belgien vom Führer der [flämisch-nationalistischen] N-VA, Bart De Wever. ... Europas Politiker sind gezwungen, sich in den nächsten Wochen zu entscheiden zwischen der Position von Orbán und der von Merkel. Verrammelt man die Grenzen und nimmt man die Implosion von Griechenland hin? Oder versucht man doch, wie Merkel, eine organisierte Aufnahme der Flüchtlinge zu schaffen?“
Im Würgegriff der Panik
Vor einer Massenpsychose in Europa warnt der Professor und Meinungsforscher Henri Beunders in der linksliberalen Tageszeitung De Volkskrant:
„Durchwinken, durchwinken, bis die Nachbarn die Tür plötzlich zuschmeißen. Was nun? Viele Länder in Europa befinden sich im Würgegriff der Panik. ... Jetzt, wo das 'Rette-sich-wer-kann' sich wie eine Lawine in Europa ausbreitet, sehen wir erst, wie heftig die Emotionen sind. ... Sie lösen Wut, Populismus und Hypernationalismus aus, sie führen zu den Orbáns, Trumps, Boris Johnsons und all den anderen, die das Problem mal eben aus der Welt schaffen wollen. ... Ob die Regierung Tspiras diese Krise überlebt, ist die Frage. Ob 'Brüssel' diese Krise überlebt ebenso. Wir dürfen nicht vergessen: Das Bedürfnis nach einem Durchbruch als Antwort auf die krankmachende Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur kann eine Dynamik entwickeln, die wir gestern noch in all unserer beschränkten Vernunft nicht für möglich hielten.“
Auflösung der EU als vielleicht einzige Hoffnung
Die Regeln, die sich Europa einst selbst gegeben hat, machen es der Gemeinschaft unmöglich, die Flüchtlingskrise zu bewältigen, meint Kolumnist Giannis Kibouropoulos in der linken Tageszeitung Avgi:
„Europa bleibt so bösartig wie es am Vorabend des Ersten oder Zweiten Weltkriegs war. ... Die Flüchtlingskrise war der Anlass, zu dem Europas wahre Seele wieder an die Oberfläche trat. ... Wenn es keine Dublin-Abkommen, kein europäisches Asylsystem, keine Frontex und keinen Schengenraum gäbe, wäre es Europas einzige Verpflichtung, das Völkerrecht der Genfer Konvention zum Schutz von Flüchtlingen durchzusetzen. Doch jetzt verletzt das bösartige Europa die grundsätzliche Verpflichtung, die hinter seinen 'Regeln' versteckt ist. Die Auflösung der EU unter dem Gewicht der Regeln kann gefährlich sein, aber vielleicht auch die einzige Hoffnung.“
Wien folgt der Boulevardpresse
Österreichs Regierung ist in der Flüchtlingskrise auf einen Kurs der Abschottung eingeschwenkt und scheint sich dabei auf unerträgliche Art und Weise von der populistischen Stimmungsmache in den Medien leiten zu lassen, kritisiert der linksliberale Tages-Anzeiger:
„Eine Zeit lang gefiel sich Faymann in der Rolle von Merkels Partner, zeigte sogar Interesse für europäische Politik. Im Inland brachte ihm das weder Wahlerfolge noch Wählersympathie. Deshalb folgt der Kanzler jetzt wieder den Ratschlägen der Kronen Zeitung, die noch nie viel Sympathie für das gemeinsame Europa zeigte. ... 'Jetzt fallen alle über uns her', titelte die Kronen Zeitung: Die Rolle des Opfers hat etwas Kuscheliges und entbindet von Verantwortung. Schuld sind immer die anderen. In Griechenland drohen verzweifelte Flüchtlinge mit Selbstmord, andere wollen den Zaun zu Mazedonien niederreissen. In Wien lobt der Herausgeber eines Wiener Gratisblatts die Abkehr von Europa: 'Unsere Regierung zeigt in der Flüchtlingsfrage endlich Haltung.' Es ist dieses Lob, das für Faymann und seine Minister zählt. Sonst nichts.“
Frankreich trägt eine Mitschuld
Die französische Tageszeitung Le Monde prognostiziert, dass die Jahre 2015 und 2016 von Historikern einst als Beginn der Auflösung Europas betrachtet werden. Die Analyse stimmt, allerdings fehlt der Hinweis, dass Frankreich entscheidend zum Zerfall der Gemeinschaft beigetragen hat, betont der französische Philosoph Étienne Balibar in einem Kommentar, der unter anderem in der linken Tageszeitung Il Manifesto erschienen ist:
„Angesichts der einseitigen Entscheidung von Kanzlerin Merkel, das Dublin-Asylverfahren zu lockern, um in Deutschland Flüchtlinge aufnehmen zu können, die zu Hunderttausenden aus Syrien (wo man beginnt, das Blutbad als Völkermord zu bezeichnen ...) und vor den anderen Kriegen im Nahen Osten fliehen, gab es zwei Möglichkeiten: die Initiative und die Bemühungen des deutschen Volkes zu unterstützen oder einen Boykott zu organisieren. Nach einigem Zögern hat die französische Regierung so getan, als hätte sie sich für die erste Option entschieden, um de facto letztere umzusetzen. So hat Frankreich, nachdem es den Juncker-Plan der Quotenverteilung der Flüchtlinge in Europa akzeptiert hatte - der zwar unzureichend aber immerhin ein Anfang war - alles daran gesetzt, damit diese Vereinbarung ein leeres Papier blieb.“
Rebellen gegen Merkel haben selbst kein Rezept
Dass Merkels Kritiker nichts Konstruktives zu bieten haben, ärgert die liberale Tageszeitung Sme:
„Als Österreich und Länder der Balkanroute vergangene Woche verschärfte Grenzkontrollen beschlossen, war Merkel nicht eingeladen, weil man sie als Problem, nicht als Teil der Lösung ansieht. In der Folge droht der griechische Premier Tsipras, den Gipfel am 7. März scheitern zu lassen. ... Ein starkes AfD-Ergebnis bei den Landtagswahlen [Mitte März] würde den Druck auf Merkel erhöhen, nach dem Beispiel Österreichs die deutsche Grenze zu schließen. ... Trotzdem bleibt es die Pflicht Europas, die Menschen aufzunehmen. ... Wenn man Merkel lächerlich macht, kann man vielleicht in Wien oder Warschau punkten. Doch hinter der sich ausweitenden Rebellion verbirgt sich nur die Unzulänglichkeit der eigenen Lösungen.“