EU startet Abschiebungen in die Türkei
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat mit der Umsetzung des EU-Ankara-Abkommens begonnen und Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei abgeschoben. Menschenrechtsorganisationen kritisieren die Aktion. Was ist der Preis für die Lösung der Flüchtlingskrise?
Den Haag hat dreckiger Politik zugestimmt
Berichte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, wonach die Türkei Flüchtlinge nach Syrien abschiebt, haben niederländische Parlamentarier empört. Kolumnist Bert Wagendorp hält dies in der linksliberalen Tageszeitung De Volkskrant für scheinheilig:
„Wenn das Parlament den Deal mit der Türkei verhindern wollte, hätte es sich ja schon im Januar für die großzügige Aufnahme von ein paar hunderttausend Syrern aussprechen können, als niederländischen Beitrag zur europäischen Lösung des Problems. ... Die Mehrheit aber wollte ein Ende des Zustroms der Flüchtlinge. Die einen mit dem Hinweis auf die zu uns kommenden Vergewaltiger und Terroristen. Andere aus Angst vor dem Wachstum genau jener Partei, welche auf die zu uns kommenden Vergewaltiger und Terroristen hinwies. ... Die Lösung unserer Probleme musste unvermeidlich dreckige Folgen haben. Das wusste jeder. ... Es ist dreckige Politik. Aber die haben wir selbst gefordert.“
EU muss Türkei bei Integration helfen
Für die regierungsnahe Tageszeitung Daily Sabah ist die Abschiebung illegaler Flüchtlinge in die Türkei absolut keine Lösung:
„Drei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei sind eine Zeitbombe, wenn man diesen Menschen keinerlei Perspektive auf eine akzeptable Zukunft gibt, in der sie unter humanen Bedingungen leben können. ... Das Hauptziel der EU sollte es sein, der Türkei dabei zu helfen nicht etwa die Flüchtlinge an der EU-Grenze zu stoppen, sondern sie in die türkische Gesellschaft zu integrieren. ... Es ist höchste Zeit, sich von der Debatte zu distanzieren, ob die Rückführung der Flüchtlinge mit den europäischen Werten übereinstimmt oder nicht. Niemand will diese Flüchtlinge, außer die Türkei. Daher ist es an der Zeit, die Türkei, ihre Regierung, ihre Behörden und NGOs dabei zu unterstützen, den Syrern die Hand zu reichen. Es ist keine Frage des Geldes, sondern eine von Prinzipien und Werten.“
Die Rechtlosigkeit hält Einzug
Den vom EU-Türkei-Abkommen betroffenen Flüchtlingen sind ihre Rechte als Schutzsuchende nicht mehr garantiert, kritisiert Kolumnist Apostolis Fotiadis in der linksliberalen Tageszeitung The Guardian:
„Die Berichte, die uns Journalisten und Anwälte von den griechischen Inseln liefern, werfen die Frage auf, ob Flüchtlingen dort ausreichend Zeit und die praktische Möglichkeit gegeben wurde, einen Asylantrag zu stellen. Es scheint so, als ob viele von ihnen noch nicht wirklich verstanden haben, was das EU-Türkei-Abkommen bedeutet oder warum sie Einschränkungen unterworfen wurden. Viele von denen, die wahrscheinlich abgeschoben werden, stellten Asylanträge in letzter Minute. Es ist zudem unklar, wie die Türkei mit den Rückkehrern umgehen wird, wie diese aufgenommen werden und ob sie jenen Schutz werden erhalten können, der ihnen dort zuvor angeboten wurde.“
Ankara missbraucht die Flüchtlingskrise
Dass die Regierung in Ankara die Flüchtlingskrise für ihre politischen Ziele ausschlachtet, kritisiert die kemalistische Tageszeitung Cumhuriyet:
„Das Flüchtlingsproblem des Nahen Ostens hat die Maske der Zivilisation fallen lassen und ihr hässliches Gesicht offenbart. ... Die Türkei etwa inszeniert ein Spiel, um mit Hilfe der Flüchtlinge die Bevölkerungs-und Wählerstruktur des Landes zu verändern: Dort, wo sie nur wenig Stimmen erhält, in den Küstenregionen der Ägäis und in Landesteilen mit überwiegend alevitischer Bevölkerung wie in Çeşme, Dikili und Kahramanmaraş, versucht die Regierungspartei AKP, Lager für drei Millionen Flüchtlinge zu errichten! So werden das Blutbad, das die Schande der Menschheit des 21. Jahrhunderts darstellt, und die daraus folgende Flüchtlingskrise ausgenutzt, um die antidemokratischen Ambitionen der Regierung zu verwirklichen.“
Asyl-Entscheidung an Außengrenzen ist gerecht
Die Abschiebung in die Türkei ist ein erster Schritt hin zu einer gerechten europäischen Migrationspolitik, glaubt die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Wenn es eine Chance gibt, zumindest die Bedingung der Möglichkeit zu schaffen, Migrationsströme so zu kontrollieren, dass Asyl- und andere Schutzberechtigte zu ihrem Recht kommen, andere Migranten aber nicht Rechte in Anspruch nehmen können, die ihnen nicht zustehen, dann besteht sie darin, diese Unterscheidung an den Außengrenzen der Europäischen Union zu treffen. Die vermeintlich alternativlose Politik der offenen Grenzen war nicht nur ein Konjunkturprogramm für Menschen, die aus der Not anderer Kapital schlagen. Sie prämierte auch die Jungen, die Starken und die Wohlhabenden. Jetzt sollten diejenigen Flüchtlinge aus Syrien nach Europa gelangen, die am ehesten des Schutzes bedürfen.“
Türkei ist kein sicherer Drittstaat
Der Umgang Ankaras mit Kritikern und Kurden zeigt, dass die EU keine Flüchtlinge in die Türkei abschieben darf, kritisiert die liberal-konservative Tageszeitung The Malta Independent:
„Die meisten der unglaublichen Menschenrechtsverletzungen, sei es gegen oppositionelle Journalisten, aber vor allem gegen die Kurden, werden von der Mehrheit der westlichen Medien ganz einfach deshalb übersehen und nicht beachtet, weil die Türkei als Nato-Mitglied ein außerordentliches Privileg genießt. ... Menschrechtsgruppen haben zu Recht Bedenken wegen der Türkei als 'sicherem Drittstaat' für Flüchtlinge, die vor Krieg und Gewalt fliehen, geäußert. Laut EU-Recht dürfen Flüchtlinge in einen Drittstaat zurückgebracht werden, wenn dieser sicher ist und keine Bedrohung für Leben und Freiheit darstellt. Jeder EU-Politiker, der die Türkei so einstuft, sollte sich einer Therapie unterziehen müssen.“
Europa stellt zu wenig Polizisten bereit
Darauf, dass die Abschiebung der Migranten von den griechischen Inseln Lesbos und Chios nicht gut vorbereitet ist, weist das liberale Webportal Protagon hin:
„Die personellen und infrastrukturellen Defizite sind so groß, dass es klare Zweifel am operativen Erfolg des EU-Abkommens gibt. ... Deutschland und Frankreich werden 200 Personen für Frontex und 100 für die Asylbehörde zur Verfügung stellen. Das größte Problem betrifft jedoch die Anzahl der Polizeibeamten. Der ursprüngliche Plan war, dass jede Person [bei der Abschiebung] von zwei Polizisten begleitet wird. Er kann nicht umgesetzt werden. Tatsächlich wird das Verhältnis eins zu eins sein. ... Aus diesem Grund haben die Briten vorgeschlagen, die Operation zu verschieben, um sich besser vorbereiten zu können.“
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