Anschlag auf Flughafen in Istanbul
Drei Selbstmordattentäter haben am Dienstagabend am Atatürk-Flughafen in Istanbul mehr als 40 Menschen mit in den Tod gerissen. Hinter dem Anschlag steckt laut türkischen Behörden die IS-Terrormiliz. Welche Ziele verfolgen die Dschihadisten mit ihrem Terror in der Türkei?
IS führt verdeckten Krieg gegen Türkei
Die Terrormiliz IS hat Ende April eine Panzerabwehrrakete auf türkische Geschütze abgefeuert und greift seit Anfang Mai auch gezielt türkische Sicherheitskräfte an. Die Dschihadisten haben in der Türkei eine neue Front eröffnet, analysiert Slate:
„Die neuen Kampfmittel und die Ziele dieser Angriffe geringeren Ausmaßes werden von den westlichen Medien oft verschwiegen. Dabei zeigen sie - abgesehen vom Attentat auf den Istanbuler Flughafen - das wahre Bild von dem, was derzeit in der Türkei passiert. Denn das Land ist dabei, zur einzigen Rückzugsbasis für Tausende Dschihadisten des geschwächten IS zu werden. ... Und dieses Bild ist das eines nicht immer offen ausgetragenen Kriegs, der den türkischen Staat mit einer Organisation konfrontiert, deren Entwicklung er über drei Jahre im Namen des gemeinsamen kurdischen Feindes erleichtert hat und die er nun allein bekämpfen muss: nicht nur in Syrien und im Irak, sondern auf seinem eigenen Boden.“
Angriff auf Erdoğans friedlichen Islam
Die Terrormiliz IS hat die Türkei erneut ins Visier genommen, weil diese einen friedlicheren Islam vorlebt, glaubt die regierungstreue Daily Sabah:
„Die Terroristen tun das, weil Erdoğan und die Türkei die Meister der wahren Werte des Islams sind und Werte wie Frieden, Mitgefühl, Barmherzigkeit sowie Menschenliebe vorleben. ... Der IS ist sich bewusst, dass dies gefährliche Werte sind, die ihre Existenz in Frage stellen und so sehen sie die Türkei und Erdoğan als die größten Hindernisse für ihr Streben, den guten Namen des Islam mit ihren krummen religiösen Ansichten zu beschmutzen. Deshalb hat der IS Anschläge in Frankreich und Belgien verübt und die Türkei immer wieder in Ankara und Istanbul getroffen. Der IS hat Raketen auf die südöstliche Stadt Kilis abgefeuert und Dutzende Zivilisten getötet. Wer also behauptet hat, dass die Türkei und Erdoğan den IS unterstützen, sollte jetzt erkennen, dass er einen großen Fehler gemacht hat und sich entschuldigen.“
Anschläge ein Zeichen der Schwäche des IS
Hinter den Bildern des verheerenden Attentats erkennt Svenska Dagbladet auch einen Hoffnungsschimmer:
„Jetzt trauern wir mit Istanbul und der Türkei. ... Aber wenn wir an die Dunkelheit denken, sollten wir uns auch daran erinnern, dass nicht alles tiefschwarz ist. Ein Grund für die steigende Zahl von Terrorattentaten ist, dass der Islamische Staat langsam aber sicher beginnt, auseinanderzufallen. Vor vier Tagen haben irakische Truppen die Stadt Falludscha eingenommen. ... Zwei Jahre lang war die dortige Bevölkerung gezwungen, unter dem unmenschlichen Terror des IS zu leben. Am Sonntag konnte die ganze Welt Bilder von vor Glück weinenden Frauen sehen, die sich den aufgezwungenen Niqab vom Leib rissen.“
Attentate zeigen Erdoğans Scheitern
Dass die Türkei seit einem Jahr regelmäßig durch Terrorattacken von Dschihadisten und Kurden erschüttert wird, zeigt das Scheitern von Erdoğans Außenpolitik, analysiert La Croix:
„Der konservative Führungspolitiker, der seit 2003 in Ankara herrscht, hat während des Arabischen Frühlings auf die Muslimbrüder gesetzt. Er wollte sie in Syrien an Stelle von Baschar al-Assad an die Macht bringen. Der Krieg hat jedoch zwei Büchsen der Pandora geöffnet: die der Dschihadisten und die der kurdischen Nationalisten. Die Türkei hat erstere zunächst gegen letztere unterstützt, bevor sie auf Druck der USA nachgegeben hat, die den IS zerstören wollen. Heute werden beide Kämpfe auch auf türkischem Boden ausgetragen. Die nationalistische und pro-islamische Strategie von Recep Tayyip Erdoğan hat noch eine weitere Folge: die Isolation der Türkei. Im Laufe der Jahre hat er sich mit Israel, Ägypten und Russland zerstritten. … Die Beziehungen zu den USA, der Europäischen Union, Saudi-Arabien und dem Iran sind kalt.“
Ohne Frieden mit PKK ist IS nicht zu schlagen
Ankara kann nur erfolgreich gegen die IS-Miliz kämpfen, wenn es den Friedensprozess mit den Kurden wieder aufnimmt, glaubt die kemalistische Cumhuriyet:
„Der Staat verwendet den Großteil der Ressourcen von Geheimdienst und Polizei nicht etwa für den Kampf gegen den IS, sondern gegen die [kurdische] PKK und die politische Kurdenbewegung. Er sieht diese als existentiellere Bedrohung an. ... Doch würde sie mit ihnen den Friedensprozess aufnehmen, wäre der Kampf gegen den IS einfacher. Zum anderen wurde zum Thema Syrien und Kurden eine falsche Gleichung aufgestellt: Die Türkei verwendet ihre Syrienpolitik und ihren politischen Geist darauf, die Ausbreitung der Kurdenbewegung in Syrien zu verhindern - genau so, wie sie es in den 1990er Jahren im Irak tat. ... Doch Türken und Kurden können den Konfessionskrieg in der arabischen Welt und das jahrzehntelange Chaos nur Arm in Arm überwinden.“
Durchhalteparolen fruchten nicht mehr
Die Zahl der Touristen in der Türkei ist im Mai im Vergleich zum Vorjahresmonat um rund 35 Prozent gesunken. Kein Wunder, meint das Boulevardblatt Õhtuleht:
„Zu viel und zu oft gab es einen Grund, Nachrichten über minütlich steigende Opferzahlen zu lesen, zu trauern und zu hören, wie Staatsoberhäupter wie abgesprochen über Mitleid mit den Opfern und deren Angehörigen sprechen, die Anschläge verurteilen und den Kampf gegen den Terrorismus ankündigen. Es hat sich etwas verändert. Im vergangenen Jahr, als die Terroranschläge die Hauptstadt von Frankreich erschütterten, haben wir uns Mut eingeredet - Hauptsache keine Angst haben und das eigene Verhalten nicht ändern, denn gerade das wollen die Terroristen. Jetzt nicht mehr. Die Angst verfolgt jeden, der sich billige Reiseangebote anschaut und zweifelt.“