Trauer und Solidarität nach Anschlägen in Paris
Nach den Terrorattacken in Paris sind am Sonntag in ganz Frankreich fast vier Millionen Menschen auf die Straße gegangen. Am Trauermarsch in Paris nahmen auch etwa 50 Staats- und Regierungschefs teil. Kommentatoren sehen dadurch die Demokratie neu gestärkt. Sie warnen aber auch, dass die Gesellschaft in Europa von Gräben durchzogen ist, die durch die Parole "Je suis Charlie" sogar vertieft werden könnten.
Die Republik steht wieder auf
Fast vier Millionen Menschen sind am Sonntag in ganz Frankreich im Gedenken an die Opfer der Anschläge auf die Straßen gegangen. Für die linksliberale Tageszeitung Libération war die Kundgebung ein Meilenstein der demokratischen Geschichte: "In Frankreichs Straßen ist am Sonntag etwas noch nie Dagewesenes passiert. Das Land von Voltaire und [Charlie-Hebdo-Zeichner] Cabu hat sich mit einer riesigen Bürgerbewegung gegen Gewalt, Obskurantismus und die Spaltung der Gesellschaft aufgelehnt. Man traf die Republik ins Herz, doch zwei Tage später steht sie wieder auf. Diese Demonstration wird sich als Meilenstein und als Signal für die Demokratie ins Gedächtnis eingraben. Wie kann man sie jetzt als fruchtbaren Boden nutzen? Ganz einfach: Indem man jeden Tag, im Hier und Jetzt und auch in Zukunft mit Kraft und Geduld gegen die rassistische Pest kämpft. Das Prinzip, das uns vereint, und das haben die Franzosen eindrucksvoll verdeutlicht, ist die Akzeptanz der Unterschiede."
"Je suis Charlie" grenzt aus
Der Slogan "Je suis Charlie", den in diesen Tagen weltweit Millionen Menschen proklamieren, ist für die liberale Tageszeitung Corriere del Ticino ein einschränkendes Motto: "Charlie Hebdo sein oder nicht sein? Das ist hier die Frage. ... Wir sind Charlie, weil wir auf der Seite der Opfer sind, nicht aber weil wir wie die Karikaturisten sind. In diesem Sinne sind wir auch Mohamed, ohne an Allah zu glauben. Wir sind solidarisch mit den Muslimen, die nichts mit der Terrormiliz IS, al-Qaida und dem gewalttätigen Dschihad der Terroristen zu tun haben. Wir sind Abraham, weil in einem Supermarkt für koschere Produkte in Frankreich Juden getötet wurden. Wir sind solidarisch mit denen, die auf der ganzen Welt potentielle Opfer des Hasses sind, weil sie Juden sind. ... Im übersättigten Spiel der Slogans laufen wir Gefahr, alles und das Gegenteil von allem zu sein. Vielleicht ist die Wahrheit folgende: Wir sind nur dann wahrhaftig und bleiben uns nur dann selbst treu, wenn wir uns bewusst sind, dass Opfer und Schuldige, Gut und Böse, tragisch miteinander verwoben sind und sich nicht durch Etiketten trennen lassen. Wir sind auf der Seite der unschuldigen Opfer. Aller unschuldigen Opfer."
Scheidepunkt zwischen Islamophobie und Offenheit
Nach den Terroranschlägen von Paris muss die europäische Politik achtgeben, die weit verbreitete Islamophobie nicht noch weiter anzuheizen, warnt die regierungsnahe Tageszeitung Sabah: "Schon seit ein paar Tagen lesen wir Nachrichten über antiislamische, rassistische Äußerungen und Angriffe gegen Muslime. An diesem Punkt stehen die europäischen Führungseliten, insbesondere in Frankreich, vor einer schwierigen Herausforderung. Diese ist an sich nicht neu, doch ist die Dimension der Konfrontation viel ernsthafter. Daher sind sie zum ersten Mal so taktvoll und vorsichtig, zwischen Terror und Islam keine Verbindung herzustellen. ... Entweder werden sie sich nun dem Rechtsextremismus und Fanatismus ergeben und damit der Errichtung einer islamophoben europäischen Kultur dienen. Oder mit einer neuen Philosophie der gesellschaftlichen Einheit Schritte zur Normalisierung Europas einleiten."
Krieg um Ressourcen, nicht um Religion
Nach den islamistisch motivierten Terroranschlägen von Paris wird vielfach diskutiert, inwiefern sie etwas mit dem Islam zu tun haben. Darauf, dass der moderne Dschihad nur wenig mit Religion zu tun hat, macht das Nachrichtenmagazin Der Spiegel aufmerksam: "Dschihadisten sind vor allem politische Figuren, nicht religiöse. Im Feldzug des 'Islamischen Staates' (IS) geht es um Machtpolitik, um territoriale Gewinne, um neue Ressourcen, um Herrschaftsbereiche. Der Islam dient dabei der Verbrämung. Wer den höheren Sinn eines Krieges ausruft, hat es leichter, Kämpfer zu rekrutieren, vor allem Sinnsucher, die im sozialen oder psychologischen Elend leben. ... [Die Dschihadisten] sind zu schwach, um unsere Gesellschaft zu bedrohen, wenn wir uns treu bleiben. Spirituell ist der Westen nicht führend in der Welt, aber auch aus Diskurs, Vernunft, Gelassenheit und Technologie kann Wehrhaftigkeit entstehen, und Freiheit ist ein hoher Sinn, für den es sich zu kämpfen lohnt, mit Maß, im Rahmen der Gesetze und der Werte der Aufklärung."
Islamismus-Bekämpfung beginnt in Syrien
Nach dem Gedenken an die islamistischen Terrorattacken in Paris sollten sich die Staats- und Regierungschefs dringend an die Bekämpfung des Islamismus machen, mahnt Emilian Isaila vom Onlineportal Ziare: "Jetzt sollten sich die Folgen des Attentats in drei Plänen wiederfinden. Einem militärischen für Syrien, wo die Alliierten ihre Aktionen gegen den IS verstärken sollten. Zugleich sollte es einen Plan geben, die innere Sicherheit zu stärken - das Recht auf Privatsphäre wird erneut unter Druck geraten. Der dritte Plan sollte sein, die Migration aus Ländern zu stoppen, die außerhalb des EU-Raumes liegen. Auch das wird jedoch nicht alle Probleme des Terrorismus und des religiösen Fundamentalismus lösen, weshalb man jenen Hoffnungen anbieten muss, die sich verlassen fühlen."
Brutales Resultat des Klassenkampfes
Die Anschläge von Paris und die Reaktionen der europäischen Politik sind nicht Teil eines Kampfes der unterschiedlichen Werte zwischen Europa und der islamischen Welt, analysiert das Webportal The Press Project. Vielmehr zeige sich daran eine neue Phase des internationalen Klassenkampfes: "Was in Paris stattgefunden hat, war ein weiteres brutales und barbarisches Ergebnis der Konflikte, wie sie heutzutage durch geopolitische Zusammenhänge und klassenbedingte Strategien bestehen. Es war nicht der angebliche Gegensatz zwischen 'Dschihad' und 'liberalen Werten'. … Wichtig ist, was jetzt folgen wird: Die demokratischen Freiheiten werden massiv eingeschränkt werden. Es wird noch mehr Morde an Einwanderern und Flüchtlingen geben, die militärischen Interventionen werden zunehmen und es wird ein Klassenkrieg gegen die europäischen muslimischen Arbeiter stattfinden. Wer meint, dass es hier einfach um die 'Verteidigung der Redefreiheit' geht, hat nicht verstanden, was wirklich los ist."