Attentat auf kurdische Hochzeit in Türkei
Bei einem Selbstmordattentat im südosttürkischen Gaziantep sind Samstagnacht mindestens 51 Menschen gestorben. Ankara vermutet die IS-Miliz als Drahtzieher, der Attentäter soll nach ersten Erkenntnissen zwölf bis vierzehn Jahre alt gewesen sein. Die Schuld einem Kind zuzuschieben, ist zu einfach, meinen Kommentatoren und geben der Regierung eine Mitschuld.
Kein Kind sprengt sich freiwillig in die Luft
Kinder, die Selbstmordanschläge verüben, sind keine Täter, sondern Opfer von Terroristen, stellt Nahost-Expert Ruslan Trad in der Tageszeitung Standart klar, nachdem Präsident Erdoğan ein Kind für das Attentat verantwortlich machte:
„Einige Medien bezeichneten den Attentäter als Kindersoldat des Dschihad. Kinder würden sich aus freiem Willen in die Luft sprengen, weil sie die IS-Ideologie teilten, hieß es. Solche Behauptungen sind weder richtig, noch reichen sie aus, um die Tragödie hinter dem Schicksal des Kindes zu erklären. Nach Angaben der UN werden tausende Kinder durch radikale Gruppen im Irak und Syrien entführt und ausgebeutet. ... Die meisten von ihnen werden zu Opfern von Menschenhändlern. ... Ein Teil von ihnen gerät in die Hände radikaler Gruppierungen und sie werden, wie zum Beispiel unter Rebellenführer Joseph Kony in Uganda, zu Kindersoldaten. Ein anderer Teil wird für Selbstmordanschläge benutzt, wie das Kind in Gaziantep.“
Hinter Terror steckt verfehlte Politik
Die Regierung in Ankara hat den Terroranschlag in Gaziantep mit zu verantworten, meint Habertürk:
„Wenn ein Land solche Morde, Terror und Terroristen produziert, wofür existieren dann die Regierung und das Parlament? Ist all das passiert, obwohl alles richtig gemacht wurde? Entstehen der Terror und die Terroristen von ganz alleine und unabhängig von aller Politik, von allen Staats-, Politik- und Regierungsverfehlungen? ... Falls es der IS war, dann würde er [von der Regierung] niemals alleine verurteilt werden. Wir hören bereits offizielle Behauptungen, es sei ein gemeinsam geplantes terroristisches Attentat gewesen [verübt von IS-Milizen, PKK und Gülen-Netzwerk], ein kollektiver Akt mehrerer Organisationen mit ausländischen Wurzeln. ... Egal, wer den Anschlag verübt hat, wir haben mittlerweile begriffen, dass es gewollte politisch-administrative Verfehlungen gibt!“
IS-Terrormiliz rächt sich an Kurden
Den Anschlag auf eine Hochzeitsfeier sieht die Tageszeitung Milliyet in direktem Zusammenhang mit dem Krieg in Syrien:
„Das Ziel des Bombenattentats von Gaziantep waren wieder türkische Kurden. Warum? Als Rache für [die Befreiung der nordsyrischen Stadt] Manbidsch. Die demokratischen syrischen Kräfte haben Manbidsch aus den Händen des IS befreit. ... Wer ist die Grundstütze der Koalitionsmächte, die den IS aus Manbidsch vertrieben haben? Die PYD/YPG-Struktur. Also die syrischen Kurden. Die Verwandten türkischer Kurden. Es ist kein Zufall, dass der IS sein Massaker in einer kurdischen Nachbarschaft verübte. Es war geplant! Vielleicht auch um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Einerseits als Rache für Manbidsch, andererseits um den kurdisch-arabischen Konflikt zu schüren. Um einen ethnischen Konflikt auszulösen. Der passendste Platz dafür ist Gaziantep, denn dort leben sowohl viele Kurden als auch Araber. Sie sind aus dem Osten und aus Syrien emigriert.“
Söhnt sich Erdoğan jetzt auch mit Assad aus?
Nach dem Attentat auf die kurdische Straßenhochzeit könnte Ankara seine Syrien-Strategie ändern, vermutet der Independent:
„Es ist faszinierend, dass auf der [von der türkischen Regierung genannten] Liste der möglichen Täter eine Institution fehlt, die Präsident Erdoğan in den vergangenen Jahren zu zerstören versucht hat: die syrische Regierung unter Baschar al-Assad. ... Offensichtlich hat Erdoğans neu gefundene Liebe für Mütterchen Russland ihren Preis. Zar Wladimir Putin wird auf dem Gipfel mit Erdoğan sicherlich über seine Zuneigung zu Assad gesprochen haben - und über die Rolle der Türkei beim Bemühen, eben jene Regierung zu vernichten, die Moskau mit seinem Militär unterstützt. Könnte es daher sein, dass Sultan Erdoğan erwägt, seine alte Freundschaft mit dem Löwen von Damaskus zu erneuern? Davon kann man ausgehen. ... Er scheint zu realisieren, dass die Türkei die Zahl ihrer Feinde verkleinern muss.“
Der Präsident ist schuld an Unsicherheit
Nach dem Anschlag versicherte Erdoğan, den Angreifern werde es nicht gelingen, die Menschen im Land gegeneinander aufzubringen. Die Frankfurter Rundschau bezweifelt dies:
„Der brutale Anschlag verdeutlicht einmal mehr, dass die Türkei zwischen IS-Terror und einem Zustand der inneren Mobilmachung, der sich gegen die zum unerbittlichen Staatsfeind erklärten Gülen-Bewegung sowie die kurdischen Oppositionsgruppierungen richtet, nicht zur Ruhe kommt. Die Türkei befindet sich in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand, bei dem nicht einmal die Feindschaftsverhältnisse offen zutage liegen. Das liegt zum einen an der geopolitischen Lage des Landes. Die türkisch-syrische Grenzregion ist ein Krisengebiet, das durch Krieg und dessen Folgen in Mitleidenschaft gezogen wird. Auf dramatische Weise hat jedoch auch die Selbstermächtigung des Präsidenten zu einer inneren Verunsicherung beigetragen, die die Bevölkerung unter Spannung hält. Die innere Sicherheit der Türkei ist auch ein Opfer von Erdoğans Diktatur der Erregung.“