Bleibt mit Macron nichts, wie es war?
"Wir wollen keine Mehrheit, um uns ein ruhiges Leben zu machen, sondern um zu reformieren" - mit dieser Erklärung positioniert sich La République en Marche vor der zweiten Runde der Parlamentswahl. Rechnerisch ist der Partei von Präsident Macron die absolute Mehrheit kaum mehr zu nehmen. Kommentatoren analysieren, welche Umwälzungen Frankreich erlebt und bemühen dabei Vergleiche mit der Geschichte.
Frankreich erfindet die Guillotine neu
Der Wahlsieg von La République en Marche verdrängt viele Politik-Veteranen von der Bühne, beobachtet El País und sieht Parallelen zum 18. Jahrhundert:
„Was gerade in Frankreich passiert, ist keine Revolution, aber es gibt gewisse Ähnlichkeiten. Am kommenden Sonntag werden die Wähler urteilen und einen Prozess besiegeln, bei dem Köpfe rollen, viele Köpfe. ... In Frankreich, Spanien und vielen anderen Ländern haben es die Leute satt, dass sich die Politiker der Institutionen bemächtigen und die Parteien zu Vermittlungsagenturen für eine Postenschacherei verkommen. Emmanuel Macron hat mit seinem beruflichen Erfolg bei der Bank Rothschild bewiesen, dass er nicht von der Politik abhängig ist, um nach vorne zu kommen. Das ist eine Stärke, die immer höher im Kurs steht und mit der nicht jeder trumpfen kann.“
Remake der Türkei 2002?
Macrons Sieg ähnelt sehr dem der AKP unter der Führung von Erdoğan in 2002, analysiert die regierungsnahe Daily Sabah:
„Es wäre unfair zu behaupten, dass die politischen Parteien Frankreichs genauso ineffizient und altmodisch sind wie die politischen Kräfte der Türkei im Jahre 2002 es waren. Aber es ist offensichtlich, dass diese Wahlen eine neue Ära, neue Herausforderungen und neue Machtverhältnisse für Frankreichs politische Arena ankündigen. Nachdem sie die Parteiführer der beiden größten politischen Kräfte, Nicolas Sarkozy aus dem konservativen Lager und François Hollande von der sozialistischen Partei, als Präsidenten getestet hat, stimmt die französische Bevölkerung für eine Lösung aus der Mitte: Ein Nein gegen Polarisierung und gleichzeitig eine Unterstützung von Mitte-rechts und Mitte-links.“
Regierung der herrschenden Klasse
Im ersten Durchgang der Parlamentswahl haben vor allem die Bürger gehobener sozialer Schichten abgestimmt. Warum dies problematisch ist, erklärt Politikanalyst Mathieu Slama in Le Figaro:
„Die Gefahr einer solchen Konstellation ist, dass die Politik zu einer Beschwerdestelle für Unternehmen wird. … Die Regierung Macron ist eine Regierung der herrschenden Klasse, die von der herrschenden Klasse gewählt wurde. Die ihr anvertraute Aufgabe besteht de facto darin, die Vorteile und Privilegien dieser Klasse zu bewahren. Weil der politische Gegner zersplittert ist, gibt es in dieser Legislaturperiode keine echte politische Opposition. Die einfacheren Schichten werden keinen politischen Vertreter haben, der innerhalb der kommenden fünf Jahre ihre Forderungen vertritt und Interessen verteidigt.“
Franzosen rebellieren klüger als Angelsachsen
Der Wahlerfolg von La République en Marche (LREM) ergibt sich aus der Unzufriedenheit mit den traditionellen Parteien, meint Rzeczpospolita:
„Nach 40 Jahren wirtschaftlichen Stillstands, einer riesigen Arbeitslosigkeit und Problemen mit der muslimischen Minderheit sagen die Franzosen den traditionellen Parteien: Genug! Der Kandidat der Sozialistischen Partei in der Präsidentschaftswahl Benoît Hamon wird nicht mal Abgeordneter, und die Republikaner, die schon fünf Jahre lang in der Opposition waren, könnten 100 Mandate verlieren. Die Hälfte der Kandidaten von LREM hat bisher keine Erfahrung in der Politik. Und es sieht danach aus, dass 43 Prozent der Abgeordneten Frauen sein werden. Frankreich macht also - wie die USA mit der Wahl Trumps und Großbritannien mit dem Brexit - einen Sprung ins Ungewisse. Aber in diesem Fall lässt der Sprung etwas deutlich Besseres erwarten als im Fall der Angelsachsen.“
Präsident hat überzeugt, Opposition nicht
An der historisch niedrigen Wahlbeteiligung von 48,7 Prozent sind Macrons Gegner ganz allein schuld, findet Marianne:
„Die Oppositionsparteien sollten sich Gedanken über ihre eigenen Schwächen und über die schweren Mängel machen, die sie daran gehindert haben, ihre Wähler zu mobilisieren. ... So sind denn weder Emmanuel Macrons Anfänge an der Macht noch die ersten Schritte der Regierung von Edouard Philippe für das am Sonntag verzeichnete beängstigende Fernbleiben der Wähler verantwortlich. Ursache dafür ist die Unfähigkeit von [Mélenchons linker Bewegung] La France insoumise, des Front National, der Republikaner und der Sozialisten, eine glaubwürdige Opposition zu verkörpern. Die Wähler Macrons sind an die Urnen gekommen. Ferngeblieben sind die anderen. Diese Abkehr verdeutlicht einmal mehr das Verschwinden der alten, entkräfteten politischen Welt, auf der der Macronismus gedeiht.“
Frankreich bleibt seiner Tradition treu
Nicht zum ersten Mal erhält ein neugewählter französischer Präsident Rückendeckung durch eine Parlamentswahl, erinnert Diário de Notícias:
„Der Sieg der jungen Partei des Präsidenten ist die Bestätigung einer französischen Tradition, die dem neu gewählten Staatschef eine Mehrheitsregierung schenkt. ... Für Macron bedeutet dies, dass er sich auf eine beträchtliche Unterstützung verlassen kann, die es ihm ermöglichen wird, sein Reformprogramm umzusetzen. ... Die historisch niedrige Wahlbeteiligung kann unterschiedlich erklärt werden: mit der allgemeinen Gewissheit, dass Macrons Partei von vornherein hoch gewinnen würde. Aber eben auch mit der Demobilisierung vor allem der extremen Rechten, die voll auf die Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen gesetzt hatten.“
Macron, der französische Tsunami
La République En Marche wird die politische Kaste Frankreichs grundlegend verändern, analysiert Le Temps:
„Weg mit den Abgeordneten, die von der Position des Parlamentsmitarbeiters aufgestiegen sind. Weg mit den in der Nationalversammlung recycelten hohen Beamten. Weg mit den Abgeordneten, die mit Gesetzgebungsmechanismen tricksen und sich bestens mit den finanziellen Maschinerien des Staats auskennen. ... Weg mit parteipolitischen Tricks und Pfründen. Die treffendste Analogie zur Beurteilung des Tsunamis Macron ist der digitale Umbruch. Seine erklärte Ziele lauten: den Nutzwert der Politik wiederherstellen und mehr Bürger am Entscheidungsprozess beteiligen. Der Wunsch, keine 'Partei wie die anderen' zu werden, wird klar und deutlich geäußert. Man steht zum Chef- und Innovationskult. Die Uberisierung der französischen Politik ist am letzten Sonntag Realität geworden.“
Nächster Gegner: die Gewerkschaften
Selbst mit einem überwältigenden Wahlerfolg ist Macron noch lange nicht am Ziel, erinnert Adevărul:
„Macron stehen sonnige Tage bevor, seine Herrschaft wird legislativ allmächtig sein, seine Reformen haben Erfolgsaussichten. ... Sind auch Wolken am Horizont sichtbar? Und ob! Vor dem Hintergrund politisch unmoralischer Affären hat der Taifun Macron zwar die historischen Parteien weggefegt, doch die Gewerkschaften stehen noch, tief verwurzelt in ihrem Starrsinn, an dem schwer zu rütteln ist. … Der Erfolg bei der Parlamentswahl stärkt Macron den Rücken als Anführer, der Frankreich auf neue Grundfesten setzen und mit fester Hand reformieren kann. Doch in den Verhandlungen mit den Gewerkschaften muss seine Regierung durch eine Bewährungsprobe. Noch schlummert Macron in den Flitterwochen, doch bald klingelt der Wecker.“
Blankoscheck für den Präsidenten
Les Echos erkennt hinter dem Wahlergebnis vom Sonntag eine klare Botschaft der Wähler:
„Die Mehrheit der Franzosen, die abgestimmt haben - egal ob rechter oder linker Gesinnung -, wünscht sich einen Erfolg Emmanuel Macrons und ist bereit, ihm die nötigen Mittel dazu zu geben und für unbekannte Abgeordnete ohne Erfahrung zu stimmen. ... Sie lassen sich nicht in die Irre führen und haben es sogar hingenommen, über die 'Affären' der Startphase von Macrons Amtszeit hinwegzusehen. Alles verläuft so, als wolle dieses Land glauben, ein überwältigendes Epos schaffen zu können. ... Für Emmanuel Macron ist dieser Blankoscheck besonders wertvoll, da er nach seinem Wahlsieg nichts von seinen Absichten über die Ausrichtung seiner ersten richtungsweisenden Reform verschleiert hat: Die Neufassung des Arbeitsrechts wird eine liberale Handschrift tragen.“
Gefolgschaft nicht gesichert
Der klare Sieg des Macron-Lagers ist auch eine politische Verpflichtung, analysiert Der Standard:
„[D]ie Franzosen wollen eine starke Staatsführung. Deshalb blickten sie im Parlamentswahlkampf auch großzügig über die bereits aufgeplatzten Finanzaffären im Macron-Lager hinweg. Doch wehe, wenn der Präsident die Erwartungen längerfristig enttäuschen sollte: Dann kann sich der Volkszorn rasch gegen den republikanischen Thronfolger wenden. Macrons demokratische Legitimation ist gar nicht so klar definiert wie es scheint. Und vor allem ist seine Mission, Frankreich wieder auf Kurs zu bringen, höchst diffizil: Die Franzosen wählen zwar gerne Reformer, verweigern dann aber deren konkrete Vorhaben. Das ist der Kern des Problems: Wenn diese Reformen ausbleiben, wird auch die französische Wirtschaft am Boden bleiben.“
Weniger fest im Sattel als es scheint
Der wahrscheinliche Sieg Macrons ist wenig legitim, kritisiert De Telegraaf:
„Die Entscheidung für ein Kabinett mit rechten Ministern und sein starker Auftritt auf der internationalen Bühne haben zu dem Erfolg beigetragen. ... Dennoch sitzt Macron mit diesem Ergebnis weniger fest im Sattel als es scheint. Denn durch die extrem geringe Wahlbeteiligung ist seine Mehrheit weniger legitim. Nun wird gefordert, das System zu ändern, weil die Franzosen gut einen Monat nach der Präsidentenwahl schon wieder wählen mussten. Dazu haben sie entweder keine Lust oder aber sie könnten vom Ergebnis der vorigen Wahl beeinflusst werden. Wegen des Wahlsystems konnte Macron von der geringen Wahlbeteiligung profitieren.“
Neoliberalen Umbau nicht hinnehmen
Die linke Opposition in Frankreich wird es künftig schwer haben, fürchtet Le Courrier:
„Für die Verteidiger sozialer Errungenschaften deutet sich ein harter Kampf an. Werden genug Abgeordnete im Parlament sein, um die Sichtbarkeit und die Mittel für die politische Gegenkraft sicherzustellen? … Und wie werden die sozialen Bewegungen auf eine Regierung reagieren, die fast hegemonial zu werden scheint? Werden sie es schaffen, sich gegen eine Regierung aufzulehnen, die es nicht unterlassen wird, nach zwei Siegen bei Mehrheitswahlen auf ihre demokratische Legitimation zu verweisen? Die Opposition wird sich bei ihrer Arbeit stets daran erinnern müssen, dass Emmanuel Macron und seine Bewegung in Wahrheit nur ein Viertel der Wählerschaft repräsentieren. Es gibt keinen Grund zu kapitulieren und das Feld für Angriffe auf den Schutz der Arbeiter und die öffentlichen Leistungen frei zu machen.“