Cumhuriyet-Prozess: Was sind die Hintergründe?
In Istanbul beginnt am heutigen Montag der Prozess gegen 17 Mitarbeiter der Zeitung Cumhuriyet. Ihnen wird Unterstützung unter anderem von PKK und Gülen-Bewegung vorgeworfen, die in der Türkei als Terrororganisationen gelten. Kommentatoren in Europa bezeichnen dies als absurd – und erklären auch, warum die Justiz in der Türkei sich solcher Vorwürfe bedient.
Und das am Jahrestag der Zensurfreiheit
Hürriyet weist darauf hin, dass der Prozessauftakt auf ein denkwürdiges Datum fällt - den Jahrestag der Abschaffung der Zensur im Osmanischen Reich:
„Präsident Tayyip Erdoğan sagt, dass nur zwei der nun Angeklagten einen Presseausweis hätten und niemand für das, was geschrieben, gezeichnet oder gesagt wurde, angeklagt ist, sondern wegen Terrorismus und Spionage. Das ist richtig. In Zeiten des Ausnahmezustands werden Medienschaffende vor allem wegen Unterstützung von Terrorismus oder Spionagetätigkeiten angeklagt oder wegen Beleidigung des Präsidenten. ... Da in der Türkei die Zensur vor 108 Jahren aufgehoben wurde, können Journalisten nicht für das angeklagt werden, was sie geschrieben haben. ... Unsere Verfassung sagt in Artikel 28, dass die 'Presse frei und nicht zensiert' ist. Das ist für die Pressefreiheit ein großartiger Tag, denken Sie nicht auch?“
Angeklagte können nicht auf Gerechtigkeit hoffen
Der Prozess steht für den Umbau der Türkei zu einem autoritären Polizeistaat, analysiert Politiken:
„Den Journalisten drohen bis zu 43 Jahre Haft. Können sie mit Gerechtigkeit rechnen? Nein. ... Es liegt nahe, die Angriffe auf die Presse und auf die demokratischen Institutionen als Versuch des autoritären Präsidenten Erdoğans zu sehen, seinen Griff nach der Macht weiter zu stärken. Einer Macht, die er erst mit Einführung des Ausnahmezustandes nach dem fehlgeschlagenen Putsch am 15. Juli 2016 und dann mit der Verfassungsänderung ausbaute. Oder, wie der geflüchtete ehemalige Chefredakteur von Cumhuriyet, Can Dündar, es formulierte: 'Die Türkei wehrte den Putsch am 15. Juli ab, wurde aber zum Opfer von Erdoğans Gegenputsch am 20. Juli 2016. Keine Militärmacht, aber ein Polizeistaat.'“
Alles Moderate ist verschwunden
Für Libération gleicht der Prozess gegen die Journalisten schon jetzt einem makabren Schauspiel:
„Sie sind mit kafkaesken Anklagen konfrontiert, ihr Prozess ähnelt dem gegen die [Romanfigur] Joseph K.: so absurd wie gnadenlos. Die Absurdität hat einen Sinn: Sie versinnbildlicht die Verwandlung der Türkei aus einer turbulenten Demokratie in eine 'Demokratur'. ... Lange wurde Erdoğan als moderater Islamist beschrieben. Der Islamismus ist geblieben, das Moderate ist verschwunden. Infolge des erfolglosen Staatsstreichs der Gülenisten kamen etwa 50.000 Menschen ins Gefängnis, ihre Beziehungen zu Gülen waren dabei aber oft sehr entfernt oder gar imaginär. Cumhuriyet wurde zum Verhängnis, offen gesagt zu haben, dass der Kaiser keine Kleider trägt.“