Warum liegt Separatismus im Trend?
Hunderttausende Katalanen streben nach Unabhängigkeit, in Norditalien haben die Bürger für mehr Autonomie gestimmt und in Schottland fordern viele die Abspaltung von Großbritannien: Regionale Nationalismen erleben eine Renaissance. Kommentatoren beleuchten Ursachen und Hintergründe dieser Bewegungen.
Naiver Glaube an Superstaat EU
Inwiefern die Integration auf EU-Ebene separatistische Bestrebungen befördern kann, erklärt The Daily Telegraph:
„Zur Blauäugigkeit neigende EU-Befürworter wollten schon immer, dass die EU letztlich die Nationalstaaten ersetzt. Das war eines der Ziele des Maastricht-Vertrags: die Schaffung einer europäischen Identität und Nationalität jenseits der Staatlichkeit, die jedem Volk, jedem Ausdruck kultureller Einzigartigkeit Platz bietet. Genau das wollen Völker wie die Katalanen, die auf Abspaltung drängen. Die Zerstörung der EU ist nicht ihr Ziel. Vielleicht ist es das Schicksal der EU, eine vergrößerte Version des Heiligen Römischen Reiches zu werden, die über Dutzende Nationen, autonome Kleinstaaten und ethnische Gruppierungen regiert.“
EU verwehrt Bürgern die Freiheit
Ekaitz Cancela glaubt in eldiario.es, dass eine nach rechts rückende EU Bürgerbewegungen wie die der Katalanen heraufbeschwört:
„Im dritten Weltkrieg geht es um soziale Gegensätze, glaubt [der deutsche Soziologe] Wolfgang Streeck. ... Doch dieser Gegensatz schert unsere Politiker nicht. Das Establishment - sowohl das spanische, das im Nationalismus und einem gegenüber Freiheiten verschlossenen Etatismus verankert ist, als auch das europäische, das sich der Durchsetzung von Wirtschaftsreformen verschreibt - versucht, etwas Grundlegendes zu verwischen: Die Achse des europäischen politischen Spektrums rückt den rechten Pyromanen immer näher und schottet sich gegen diejenigen ab, die in der neoliberalen und technokratischen Ordnung Europas ein Hindernis für jegliche Bürgerfreiheiten sehen.“
Katalanen wollen zu Recht ihre Identität wahren
Speziell mit dem katalanischen Unabhängigkeitsstreben beschäftigt sich Yeni Şafak und glaubt, dass dieses in der jahrhundertealten Geschichte des Volkes wurzelt:
„Diese Menschen sind ein Volk mit einer eigenen Sprache und einer eigenen Kultur seit dem zehnten Jahrhundert. Im 13. und 15. Jahrhundert hatten die Katalanen sogar ein Mittelmeerimperium. ... Die katalanische Identität ist keine erfundene. Seit mindestens tausend Jahren ist die katalanische Gesellschaft um die Sprache herum organisiert, gibt es eine territoriale Kontinuität sowie eine Tradition der regionalen politischen Demokratie und Selbstverwaltung. Es liegt an Spanien, diese jahrhundertealte Geschichte, die Einheit der Sprache, das Nationalbewusstsein und die Erfahrung in der Selbstverwaltung zu integrieren. ... Die Katalanen verdienen es.“
Ohnmacht flüchtet sich in regionales Streben
Den norditalienischen Referenden und dem katalonischen Unabhängigkeitsstreben liegt ein gespaltenes Verhältnis zu Europa zugrunde, findet der Politikwissenschaftler Marc Lazar in La Repubblica:
„Die Regionalismen bekunden ein demokratisches Unbehagen. Sie machen sich das allgemeine Misstrauen den Politikern gegenüber zunutze, das Gefühl der Ohnmacht, das die nationale Politik vermittelt, den Eindruck, dass Europa weit entfernt sei. Sie greifen folglich den Wunsch der Bürger auf, eine Entscheidungsinstanz zu finden, die ihnen näher steht. Alle diese Bewegungen haben ein gespaltenes Verhältnis zu Europa. Einerseits erklären sie sich im Namen der offenen Wirtschaft als Europäer. ... Andererseits erliegen sie der Versuchung, sich in ihre lokalen Realitäten und Besonderheiten zurückzuziehen.“
Aufstand der Reichen
Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung weist Gemeinsamkeiten mit dem Aufstand der Bulgaren gegen die Osmanen am Ende des 19. Jahrhunderts auf, findet der Kolumnist Bojko Lambowski in Sega:
„Was befeuert den Separatismus? Ist es Sklaverei, Ungerechtigkeit und das Ausrauben der lokalen Bevölkerung durch die Staatsmacht? Oder ist es der 'Egoismus der Reichen', die alles, was sie erwirtschaftet haben, für sich behalten wollen, anstatt es mit den ärmeren oder 'fauleren' Regionen zu teilen? ... Laut dem Historiker Nikolaj Gentschew war der Grund für den Bulgarischen Aprilaufstand 1876 nicht die Repression der bulgarischen Bevölkerung durch die Osmanen, sondern das gestiegene Selbstbewusstsein der Bulgaren. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet die Orte Kopriwschtiza, Batak und Panagjurischte, die bereits eine stärkere Wirtschaft, Kultur und Bildung hatten, am lautesten nach Unabhängigkeit verlangten.“
Wirtschaftliche Zentren nicht vernachlässigen
Die Fälle Lombardei und Venetien sowie Katalonien zeigen, dass aufstrebende urbane Zentren sich von der Politik zunehmend vernachlässigt fühlen, warnt Financial Times:
„Alles deutet darauf hin, dass große Städte immer mehr Selbstverwaltungsrechte fordern, weil sich die Beziehung mit dem jeweiligen Rest des Landes zunehmend verschlechtert. Dieser Rest des Landes braucht die Städte zwar, doch gleichzeitig stört er sich an deren Aufstieg. Wenn Konservative den Nationalstaat wirklich wertschätzen, dürfen sie nicht zu einer einseitigen Lobby für die unzufriedensten Provinzen werden. Das ist eine Art Missbrauch, so kann ein Staat nicht funktionieren. Die langfristig größte Bedrohung für die nationale Einheit kommt von produktiven, nach außen gerichteten Regionen, die auf ihre innerstaatlichen Nachzügler blicken und sich wie an einen Leichnam gefesselt fühlen.“
Regional-Patriotismus ist Europas Zukunft
Von Barcelona aus könnte eine Welle von Autonomiebewegungen gestartet werden, die ganz Europa erfasst, freut sich der Kolumnist Jakob Augstein in Spiegel Online:
„Es könnte sein, dass in Spanien ein Prozess beginnt, der eines Tages den ganzen Kontinent erfasst: das Ende des Nationalstaats, die Renaissance der Region, die Geburt eines neuen Europas. Und wenn es so wäre: Gut so! Die Nationen sollen leben - aber die Nationalstaaten sterben. Wir brauchen sie nicht mehr. ... Denn die Wahrheit ist: Der Nationalstaat war einmal modern, inzwischen ist er ein alter Hut. Es gibt kaum eine wichtige Frage, die sich heute noch in nationalen Grenzen klären lässt. Souveränität ist für die weitaus meisten Staaten eine Illusion, für die europäischen ohnehin.“