Sexuelle Übergriffe belasten britische Politik
Als Folge der Debatte um sexuelle Übergriffe hat der britische Verteidigungsminister Michael Fallon seinen Rücktritt erklärt. Auch weitere Regierungsmitglieder und Abgeordnete der Tories stehen unter Verdacht, sich der sexuellen Belästigung schuldig gemacht zu haben. Was bedeutet das für die Regierung von Premierministerin May?
Schwerer Schlag für Premierministerin
Der Rücktritt des britischen Verteidigungsministers Michael Fallon und die Sorge, dass er sich nicht als einziger Politiker des sexuellen Missbrauchs schuldig gemacht hat, ist für Premierministerin Theresa May alles andere als erfreulich, konstatiert Hospodářské noviny:
„Theresa May hat mit dem Abgang ihres Ministers ein massives Problem. Mehr noch: Durch Westminster wabern Gerüchte, dass Fallons Beispiel nicht das einzige seiner Art sein könnte. Die Peinlichkeit könnte einige Dutzend Abgeordnete und auch andere Minister betreffen. Und der zweite Grund für Mays Kopfschmerzen: Der bisherige Verteidigungsminister gehörte zu den Pfeilern ihres Kabinetts. Er hat sich bei so mancher Affäre vor die Journalisten gestellt und die Atmosphäre beruhigt. Jetzt ist er weg und mit ihm ein wichtiger Stabilitätsanker inmitten der Verfechter verschiedener Versionen des Brexit.“
May leidet unter MeToo
Der Rücktritt von Verteidigungsminister Fallon als Folge der MeToo-Bewegung kommt für die britische Premierministerin Theresa May zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt, konstatiert De Volkskrant:
„In der britischen Regierung herrscht immer noch Uneinigkeit über den Brexit-Kurs und Fallon, einer der erfahrensten Minister im Kabinett, wird sehr vermisst werden. ... Es ist nicht undenkbar, dass die Regierung May ein ähnliches Schicksal wie 'House of Cards' ereilen wird. Die Produktion der Politserie wurde wegen der Sexaffären von Kevin Spacey abgebrochen. ... Und inzwischen steht auch Jeremy Corbyn bereit, um die Macht zu übernehmen.“
Sexismus-Debatte verbessert die Gesellschaft
Die nun vielerorts vielleicht zu heftig geführte Diskussion über sexuelle Belästigung und Sexismus ist letztlich im Sinne der Frauen, meint The Evening Standard:
„Der Sturm, der in Hollywood begonnen hat und nun hier in Großbritannien durch Institutionen wie das Parlament und die BBC fegt, wird sich für viele, die zu Unrecht hineingeraten sind, unweigerlich wie eine Hexenjagd anfühlen. Die Herrschaft des Pöbels in den sozialen Medien kann ja niemandem wirklich behagen. Doch wenn am Ende eine kulturelle und gesellschaftliche Veränderung steht und Frauen nicht nur besser geschützt, sondern auch an ihren Arbeitsplätzen im ganzen Land gestärkt sind, dann wird viel Gutes daraus entstanden sein.“
Unschuldsvermutung muss weiter gelten
Auch angesichts des Vorwurfs der sexuellen Belästigung darf es keine Vorverurteilung geben, führt der Historiker Maxime Tandonnet in Le Figaro aus:
„Die Unschuldsvermutung ist ein abgedroschener Grundsatz, der jedoch zentral für Demokratie und Menschenrechte ist. Kann es sein, dass ein Mensch, der verdächtigt oder beschuldigt wird, gleich zum Schuldigen wird und ohne jegliches Urteil mit seiner Ehre bezahlen oder auf seine Karriere verzichten muss? … In unseren Demokratien gibt es doch eine ermittelnde Polizei und eine Justiz, die die Aufgabe hat, den Sachverhalt festzustellen, zu beurteilen und schließlich ein Urteil zu sprechen. Niemand darf zur Selbstjustiz greifen: Das ist ein Grundsatz unserer Demokratie. Wer die Ehre eines Mannes oder einer Frau durch eine einfache Anzeige zerstört, verhöhnt dieses Prinzip.“
Männer nicht unter Generalverdacht stellen
Männer pauschal als Täter darzustellen, bringt die Sache der Frauen nicht weiter, meint die Rechtsanwältin Katharina Braun in Der Standard:
„Es ist ja bald keine normale Kommunikation zwischen den Geschlechtern möglich. Und es würde mich nicht verwundern, wenn es bald zu Zuständen kommen würde, die wir anderorts verpönen, nämlich zu einer strengen Geschlechtertrennung, getrennter Nahrungsaufnahme, Schwimmbad nur für Frauen und die Gebäudetrakte in den Hotels nach Geschlechtern getrennt. In den USA hat ein Mann Angst, mit einer Frau allein in den Aufzug einzusteigen, bei Besprechungen zwischen Mann und Frau wird die Bürotür offengehalten. ... Im Sinne des Humanismus sollten wir Geschlechter gemeinsam dafür sorgen, dass Diskriminierung und Gewalt keinen Raum bekommt. Egal ob gegen Frau oder Mann.“
Selbstverliebte Politiker sind anfällig
Zu viele Abgeordnete fühlen sich nicht an gesellschaftliche Grundregeln gebunden, klagt Kolumnistin Rachel Sylvester in The Times:
„Einige der Vorwürfe könnten jeglicher Grundlage entbehren oder durch Rachegefühle motiviert sein. Vielleicht neigen einige Frauen zu Überreaktionen bei einem harmlosen Kompliment oder einem Flirt. Die meisten Abgeordneten sind mehr an konkreter Arbeit als an Rumknutschen interessiert. Doch es gibt schon ein echtes kulturelles Problem in Westminster, wo sich die Hierarchie des Parteiensystems gefährlich mit nächtlichen Sitzungen und billigen Bars mischt. Politiker sind nicht selten zwanghaft risikofreudige Persönlichkeiten, in denen Selbstverliebtheit mit Bedürftigkeit verschmilzt. Zu viele von ihnen glauben, dass sie über den Regeln stehen - was natürlich nicht der Fall ist.“
Jeden Einzelnen zur Rechenschaft ziehen
Parteien müssen stärker gegen die Übeltäter in den eigenen Reihen vorgehen, fordert The Daily Telegraph:
„Es besteht das Risiko, dass die aktuelle Welle an Vorwürfen wegen sexueller Belästigung als Auswuchs einer politischen Unkultur gesehen wird, der zu groß ist, um einzelne Abgeordnete zur Verantwortung zu ziehen. Wenn alle gemeinsam verantwortlich gemacht werden, können einzelne Täter davonkommen. Das passierte am Ende des Spesenskandals im Parlament 2009: Einige Abgeordnete traten zurück, einige gingen ins Gefängnis, aber viele blieben und wurden 2010 wiedergewählt. ... Generell soll es den Wählern vorbehalten bleiben, ob sie einen Abgeordneten im Amt belassen wollen, dem schlechtes Verhalten vorgeworfen wurde. Doch das bedeutet nicht, dass die Parteien in ihren Parlamentsklubs nicht ein strengeres Regiment führen könnten.“