Steckt Moskau wirklich hinter Skripal-Vergiftung?
London macht Moskau für den Nervengift-Anschlag auf den Ex-Doppelagenten Skripal verantwortlich und hat 23 russische Diplomaten ausgewiesen. In einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats lieferten sich die Vertreter von Großbritannien und den USA heftige Wortgefechte mit dem russischen Botschafter. Doch nicht alle Kommentatoren sind überzeugt, dass Russland mit der Vergiftung zu tun hat.
Zweifel an der Täter-Theorie
Warum nicht zwangsläufig Russland hinter dem Giftanschlag steckt, erklärt Diena:
„Schon lange kennt er keine Staatsgeheimnisse mehr, und er wurde in Russland offiziell begnadigt. ... Das Gift wurde in den 1970er und 1980er Jahren entwickelt, nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Herstellung gestoppt und offiziell wurden alle Bestände beseitigt. Theoretisch kann Russland die Produktion von Nervengift wiederaufnehmen. Doch diesmal ist eine andere Frage wichtiger: In welche Hände sind die Formeln und Rezepte gelangt, als in den 1990er Jahren alles in Russland verkauft wurde? All das weckt Zweifel, ob Russland als Hauptverdächtiger in Frage kommt. Denn auf der Liste möglicher Kandidaten steht jedes Land oder jede Organisation, die die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen weiter verschärfen möchten, um daraus Gewinn zu schlagen.“
Die Geister der Vergangenheit
Der Vergiftungsfall in Salisbury zeigt auf, welche Gefahr mitten in Europa schlummert, ist auch Adevârul alarmiert:
„Seit Jahren warnen glaubwürdige Quellen vor geheimen Laboren und Waffenlagern, die mit Hilfe von Diebesgut aus früheren sowjetischen Stützpunkten in Osteuropa nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gebaut wurden. Man hielt die Sorgen für gerechtfertigt, weil viele der Experten, die in der Produktion chemischer und biologischer Kampfstoffe arbeiteten, einfach verschwunden waren. Und einige dieser Experten sollen von terroristischen Organisationen angeheuert worden sein, die jetzt eigene Arsenale aufbauen.“
Kalter Krieg passt nicht ins Heute
Ob die Affäre Skripal den Kalten Krieg wieder aufleben lässt, beschäftigt Standart:
„Die Antwort ist jein. Denn die Welt lässt sich nicht mehr nur in Ost und West teilen. Russlands Strategie ist, die neuen Linien, entlang derer sich die Konflikte entzünden, zu beeinflussen. Die wirtschaftliche und politische Annäherung an China der letzten Jahre ist Teil dieser Strategie. Man kann also nicht mehr bloß von einer Ost-West-Teilung der Welt sprechen, es ist komplizierter geworden. In der Skripal-Affäre spielt die Wirtschaft eine mäßigende Rolle. Schließlich gehen 55 Prozent der russischen Exporte in die EU. Moskau kann es sich nicht leisten, die Beziehungen zum wichtigsten Wirtschaftspartner zu kappen. Auf der anderen Seite ist die EU abhängig von russischen Energielieferungen.“
An Londongrad traut sich May nicht dran
London scheut sich, das eigentliche Problem in Angriff zu nehmen, kritisiert Kolumnist Paolo Garimberti in La Repubblica:
„Wenn Russland auch ein Klima wie zu Zeiten des Kalten Krieges hat wiederaufleben lassen, so haben sich die Mittel und Ziele doch gewandelt. Theresa May aber hat das nicht begriffen - oder tut zumindest so. Sie reagiert auf die Vergiftung von Sergej Skripal und seiner Tochter, als befänden wir uns noch in der Zeit der Romane von John Le Carré. ... Der wahre Grund für ihre unzeitgemäße - und wenig wirkungsvolle - Reaktion besteht darin, dass May und ihr illustrer Außenminister Boris Johnson keinen blassen Schimmer haben (oder haben wollen), was sie gegen das sogenannte Londongrad unternehmen sollen: die mysteriöse Mischung aus Oligarchen und Spionen, politischen Gegnern, aber auch Verbündeten und 'Sponsoren' des russischen Präsidenten, die sich in London seit dem Zusammenbruch der UdSSR eingenistet hat.“
Russische Familien ins Visier nehmen
The Times schlägt denn auch vor, auf die Familien russischer Geschäftsleute in Großbritannien zu zielen:
„Wollen wir Putins Kreise unter Druck setzen, so sollten wir ernsthaft in Erwägung ziehen, eines der Elemente ins Auge zu fassen, das die wohlhabenden Russen an Großbritannien am meisten schätzen: Die von den Privatschulen angebotene Erziehung, die dortigen Umgangsformen und gesellschaftlichen Netzwerke. Die Zahl russischer Kinder auf diesen Schulen hat sich zwischen 2006 und 2016 auf 2.300 verdreifacht. ... 'Wir verbannen sie aus den Klassenzimmern' - das klingt vielleicht nicht heldenhaft nach Winston Churchill, doch in diesem neuen Zeitalter der Kriegsführung ist Soft Power so real und nützlich wie jedes andere Mittel der Machtausübung.“
Konfrontation hätte hohen Preis
Rzeczpospolita erinnert die Affäre Skripal an den Falklandkrieg:
„Heute steht Theresa May und mit ihr der ganze Westen vor einer ähnlichen Prüfung. Wenn sich herausstellt, dass Wladimir Putin ungestraft im Zentrum Großbritanniens chemische Waffen einsetzen kann, wird das die Glaubwürdigkeit der Nato stark beschädigen. Dies könnte den Kreml dazu verleiten, noch spektakulärere Angriffe gegen die Interessen Europas und Amerikas zu unternehmen. Allerdings ist Russland nicht Argentinien, der Preis einer Konfrontation mit Moskau wäre für London viel größer als der Preis einer Auseinandersetzung mit Buenos Aires. Noch ist nicht klar, ob Großbritannien bereit ist, ihn zu bezahlen. Und die Haltung der britischen Verbündeten ist noch unklarer.“
Hysterie statt Coolness: Ade, altes Großbritannien
Die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti sieht den eigentlichen Skandal im nervösen Verhalten der britischen Regierung:
„Die Welt ist schockiert über die Kluft zwischen ihrer gewohnten Vorstellung von Großbritannien und jenem bitteren Kasperletheater, das sie in der Realität beobachtet. Ginge es anstelle Englands um irgendeine Ukraine, niemand würde mit der Wimper zucken. ... Wir befinden uns im 21. Jahrhundert und ein reales Britannien, in dem eine Premierministerin Hysterieanfälle erlebt und komische Theorien verbreitet, lebt in friedlicher Koexistenz mit einem virtuellen Britannien, in dem nach wie vor Übermenschen in Tweed-Jacken gepflegt Tee trinken und dabei scharfsinnig den Lauf der Dinge erörtern.“
Britische Geheimdienste vorgeführt
Dass erneut ein ehemaliger Agent auf britischem Territorium vergiftet wurde, stellt London vor ein riesiges Problem, erklärt der Ex-Diplomat Bohdan Jaremenko in Nowoje Wremja:
„Faktisch stellen die Russen die Fähigkeit der britischen Geheimdienste in Zweifel, einen Mindeststandard ihrer Tätigkeit zu gewährleisten, nämlich die Sicherheit der eigenen Leute. Das schafft gigantische Probleme für das ganze System der britischen Geheimdienste, nicht nur für die Tätigkeit gegen Russland. Dabei hat Großbritannien niemals zu Racheaktionen gegriffen - der Beseitigung von Agenten russischer Geheimdienste. Jetzt steht die britische Regierung vor einem Dilemma: Wie das verlorene Vertrauen wieder aufbauen? Es gibt nur zwei Wege: entweder Racheaktionen auf Geheimdienstebene oder die Bestrafung des russischen Staats als Ganzem.“
Wenig Handlungsspielraum für May
Welche Optionen London nun hat, resümiert La Vanguardia:
„Mays Handlungsspielraum für neue Russland-Sanktionen ist eng, wenn sie nicht die bilateralen Beziehungen aufs Spiel setzen will, was auch Auswirkungen auf Europa und die USA hätte. London kann russische Diplomaten ausweisen, die Visa-Vergabe für Kreml-nahe Russen erschweren oder sogar russische Oligarchen bei ihren Geschäften in der City behindern. ... Auch könnte man überlegen, Russia Today die TV-Lizenz zu entziehen, einen Gegenschlag im Cyberkrieg ausführen und russische Fakenews-Webseiten attackieren. Sogar die russische Fußball-WM in gewissem Rahmen zu boykottieren, mag man erwägen. ... Die EU hat Großbritannien die Unterstützung zugesagt, aber zusätzliche Russland-Sanktionen durch Brüssel gelten als unwahrscheinlich.“
Trump und Brexit tun jetzt besonders weh
Leider kann London im aktuellen Konflikt nicht mehr so wie früher auf seine Verbündeten zählen, klagt The Times:
„Großbritannien macht gerade einen doppelten Entfremdungsprozess durch. Ausgerechnet zu einer Zeit, in der das Land einen verlässlichen Partner in Washington bräuchte, ist es mit dem ersten 'Amerika zuerst'-US-Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert. Dazu kommt, dass Großbritannien gerade jetzt seine Verbindungen mit den früheren kontinentaleuropäischen Partnern kappt. ... Europa und die EU bleiben natürlich unsere Freunde. Doch sie sind weit weniger motiviert, uns beizupflichten oder uns zu helfen, als das früher der Fall war.“
Einen kühlen Kopf bewahren
De Volkskrant mahnt den Westen in der Angelegenheit zur Besonnenheit:
„Dies ist kein Kalter Krieg 2.0. Nicht Russland, sondern China ist die größte Bedrohung der heutigen Ordnung. Außerdem der Westen selbst, der seine eigenen Werte anzweifelt. ... Der Kreml operiert von einer Position der Schwäche aus, auch wenn der Effekt deshalb nicht weniger gefährlich ist. Die westlichen Staaten brauchen deshalb eine kluge Strategie, mit der sie zwar hart gegen das Fehlverhalten des Kremls vorgehen, aber die Tür für den Gegner immer offen halten. Der Fall Skripal verlangt gezielte Gegenmaßnahmen und Solidarität mit den Briten, aber auch Klarheit über die Absichten des Westens. ... Man muss Provokationen mit Prinzipien beantworten, nicht mit Emotionen.“