Türkei: Per Demokratie in die Autokratie?
Staatschef Erdoğan hat in der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahl die absolute Mehrheit gewonnen. Seine Partei AKP verlor allerdings die Mehrheit der Sitze im Parlament und ist auf den Partner, die rechtsextreme MHP angewiesen. Einige Kommentatoren beobachten, dass die Türkei ein demokratischer Sonderfall ist.
Westen verkennt eine lebendige Demokratie
Al-Quds Al-Arabi, palästinensische Tageszeitung mit Sitz in London, überrascht nicht nur der eindeutige Sieg des Präsidenten, sondern vor allem auch die hohe Wahlbeteiligung:
„Die hohe Wahlbeteiligung in der Türkei, von der westliche Demokratien nur träumen können, zeigt die Zustimmung breiter Bevölkerungsschichten zu den Verfassungsänderungen. ... Bedauerlich ist, dass trotz dieser Lehren aus den Wahlen die Mehrheit der westlichen Beobachter das türkische Experiment vernichtend bewertet und sich über Wahrheiten hinwegsetzt. Eine Frage muss gestellt werden: Warum hasst der Westen diese lebendige Demokratie?“
Club der autoritären Führer Europas
Erdoğan ist der Führer eines antieuropäischen Trends, warnt Jutarnji list:
„Erdoğan hat sich weit vom europäischen Standard entfernt und ist dabei nicht mehr allein. Er ist nicht mehr ein seltenes Exemplar eines giftigen, wundersamen Schnabeltiers inmitten zahmer Wiederkäuer, sondern der Führer eines Rudels autoritärer Herrscher, wie Viktor Orbán, und ambitionierter Jungtiere, wie Matteo Salvini, die sich aggressiv nach oben beißen. Entscheidend ist, dass keiner von ihnen durch einen Staatsstreich an die Macht gekommen ist, sondern jeder durch den Willen der demokratischen Mehrheit. Ja, das ist Demokratie, aber mit zerstörten Gleichgewichtsmechanismen und einer Diktatur der Mehrheit. So hat Erdoğan in der Wahlnacht absolut zu Recht gerufen: 'Es lebe die Demokratie'.“
Der Kurs Richtung EU ist endgültig beendet
Die Türkei hat mit dieser Wahl die Verbindung zum Westen verloren, schreibt Phileleftheros:
„Schon lange hat Erdoğan gezeigt, dass sein Ziel nicht eine säkulare, sondern eine islamische Türkei ist. Die Wahlen am Sonntag haben die Transformation der türkischen nationalen Identität am deutlichsten gemacht. Die islamischen Werte werden zu einem integralen Bestandteil dieser Identität. Die Türkei gehört jetzt zum Osten und nicht zum Westen. Aus diesem Grund hat das Land seinen Weg in Richtung Europäische Union verloren. … Beide Seiten schienen in letzter Zeit in einer Zwangsehe gefangen zu sein. Aber selbst wenn sie es nicht offiziell erklären, gehen die beiden Seiten nun andere Wege.“
Harte Zeiten für Oppositionelle
Erdoğans neue Machtbefugnisse sind eine Herausforderung für die Demokratie und diejenigen, die für diese einstehen wollen, mahnt die Irish Times in ihrem Leitartikel:
„Erdoğan hat sich maßgeblich stärken können. Kein Wunder, dass ihn einige den 'neuen Sultan' nennen - eine Anspielung auf die absoluten Herrscher des Osmanischen Reiches. ... Die Demokraten der Türkei stehen nun vor der Herausforderung ihres Lebens. Erdoğan hat schon lange autokratische Instinkte besessen. Nun hat er die Macht eines Autokraten. Zu befürchten ist, dass seine Anstrengungen, den Raum für eine freie öffentliche Debatte zu schließen, gerade erst begonnen haben. Seine Gegner stehen nun vor der Herausforderung, einen Weg zu finden, wie sie ihre Stimmen in einem zunehmend autokratischen Staat hörbar machen können.“
Erdoğan wird nicht zum türkischen Putin
Bei aller Machtfülle muss Erdoğan darauf Rücksicht nehmen, dass seine Gegner im Land großen Rückhalt haben, schreibt Vedomosti:
„In der Türkei gibt es weiterhin eine reale Opposition mit einer wesentlichen Basis. Und auch die gewohnte Aufteilung zwischen einem europäisch gestimmten Küstengebiet, einem kurdischen Süden und den traditionalistischen Zentralregionen existiert weiter. ... Ungeachtet seines Erfolgs kann man Erdoğan deshalb nicht den 'türkischen Putin' nennen. Auch wenn er die gewünschte Machtfülle jetzt bekommt, wird Erdoğan kaum danach streben, seine persönliche Macht noch weiter auszubauen. Er weiß, dass dies Massenproteste hervorrufen kann. Die Innenpolitik wird in der neuen Amtszeit wohl gemäßigt sein. Und außenpolitisch wird Erdoğan versuchen, zwischen Russland und den USA zu balancieren, für die die Türkei als Nachbar Syriens und größtes Land der Region von Bedeutung ist.“
AKP muss aus dieser Wahl lernen
Bei den Wahlen in der Türkei am Sonntag hat Erdogan 52,59 Prozent der Stimmen erhalten, seine Partei AKP aber nur 42,59 Prozent. Das darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden, findet die regierungstreue Tageszeitung Sabah:
„Die Schere zwischen Erdoğan und der AKP darf sich nicht öffnen. ... Ansonsten wird der Plan, zur Unterstützung Erdoğans die AKP zu schwächen, für die Kommunalwahlen 2019 und danach dauerhaft zum Risiko. ... Das bedeutet, dass der Erneuerungsprozess der AKP, der mit der Diagnose der 'Materialermüdung' begann [so nannte Erdoğan selbst Ermüdungserscheinungen in der Partei], nicht als einmaliger Schritt verstanden werden darf. ... Man darf nicht vergessen, dass abgesehen von allen Reformen die AKP noch immer die einzige politische Institution bleibt, die kurdische Bürger an Ankara binden und nationale Einheit und Integrität garantieren kann.“
Wohlstandsversprechen gerät ins Wanken
Die Wirtschaft ist Präsident Erdoğans Achillesferse, bemerkt Ilta-Sanomat:
„Die nächste große Herausforderung ist die durch Schulden angetriebene Wirtschaft, die nach einer langen Zeit des Booms nun wieder im Abschwung begriffen ist. Die Lira hat an Wert verloren und die Inflation ist zweistellig - der mehr als 80 Millionen Einwohnern starken Wirtschaft droht eine Krise. ... Im Falle einer Wirtschaftskrise würde die wichtigste Botschaft der AKP, den Türken Wohlstand zu bringen, ihre Glaubwürdigkeit verlieren. In einer normalen Demokratie würde das Probleme für die Herrschenden im Parlament und eine Niederlage bei den nächsten Parlamentswahlen bedeuten, aber die Türkei ist keineswegs eine normale Demokratie.“
Noch eine Gangart härter
Dass sich die Lage in der Türkei entspannen könnte, daran glaubt die linke Tageszeitung Birgün nicht:
„Ein Erdoğan, der in der ersten Runde gewählt wurde, ist für die Türkei in schwierigen Zeiten ein noch schwerer wiegendes, ätzendes Problem. Wir sollten uns keine Illusionen machen: Erdoğan wird genau das machen, was er bisher getan hat - nur mit härterer Gangart. Und vielleicht mit noch einem Unterschied: Vom Balkon aus [von dem die Wahlsiege verkündet werden] wird er anstelle von Demokratie und Toleranz, eher von Hass und noch mehr Druck sprechen. Sollte er von Demokratie reden, würde es sowieso niemand glauben.“
Zentralisierung der Macht
Die Türkei wird um fast hundert Jahre zurückgeworfen, klagt La Stampa:
„Erdoğan ist jetzt Präsident und Regierungschef zugleich. Binali Yıldırım wird, wie er bereits angekündigt hatte, der letzte Premier in der Geschichte der modernen Türkei sein. Der Präsident wird die Minister nach Belieben ernennen und abberufen, er wird Regierungen bilden und aufkündigen, das Parlament auflösen, wenn er es für angebracht hält. ... Die Zeitungen haben bereits das neue institutionelle System veröffentlicht: In den Grafiken erscheint es als das ptolemäische System, mit dem Präsidenten in der Mitte, es folgen Machtbereiche, die ihm direkt unterstehen, dazu gehört die Justiz, und schließlich, in einem Kreis etwas weiter außen, die Ministerien. Seit der Zeit des letzten Sultans Mehmed VI., der 1922 von Atatürk abgesetzt wurde, gab es keine solch zentralistische Macht.“
Schwache AKP kann Erdoğan egal sein
Die AKP erzielte in der Parlamentswahl laut staatlicher Agentur Anadolu 42,6 Prozent der Stimmen und damit deutliche Verluste zur letzten Wahl, als sie 49,5 Prozent gewann. Dies dürfte den Präsidenten unbeeindruckt lassen, fürchtet The Daily Telegraph:
„Ein gezügelter Präsident Erdoğan wird kaum seinen Führungsstil ändern. Er gedeiht in der Krise. Der Wunsch vieler Türken nach wirtschaftlicher Stabilität und weniger Ärger an den Grenzen zu Syrien und dem Irak erklärt die wachsende Unterstützung für die Opposition. Dies hat zwar Erdoğan nicht gestürzt, verweist aber auf eine Entzauberung, die selbst seine Dominanz über den Staat und das Wahlsystem nicht verstecken können. Zwar könnte er für eine Mehrheit im Parlament auf die nationalistische MHP-Partei angewiesen sein, doch wird Erdoğan seine neuen und gestärkten Befugnisse einfach von einer schwächeren parlamentarischen Basis aus durchsetzen.“
Wer allein herrscht, macht mehr Fehler
Der Wahlsieg und das neue Präsidialsystem werden sich für Erdoğan als Bumerang erweisen, glaubt der Tages-Anzeiger:
„Denn wo die Kontrolle fehlt oder alle Angst haben, dem Mann an der Spitze die Meinung zu sagen, passieren Fehler. Die Verunsicherung wird anhalten, Kapital und Köpfe werden weiterhin fliehen, daran wird das Wahlergebnis nichts ändern. Der Verfall der türkischen Lira ist nicht nur hausgemacht, aber die politischen Zustände spielen eine grosse Rolle beim Vertrauen in eine Währung. Viele Unternehmen hat dies schon an den Rand der Zahlungsfähigkeit gebracht. Auch der Staat hat über seine Verhältnisse gelebt, er hat das Geld mit vollen Händen ausgeteilt, um die Wähler zufrieden zu stimmen. Dieser Wahlsieg war teuer erkauft.“
Demokraten in Türkei nicht vergessen
Für tagesschau.de ist nun auch Europa gefordert:
„Europa darf nicht vergessen, dass sich die Hälfte dieser Bevölkerung ein demokratischeres Land wünscht. Europa darf die Verbindung zu diesem Land nicht verlieren. Viele Menschen hier haben für eine liberalere Türkei gekämpft. Jetzt sollte Europa für sie kämpfen - sie nicht verurteilen und sich vor allem nicht abwenden. Abwendung macht jedes autoritäre Regime noch autoritärer. Denn man darf nicht vergessen, dass in der Türkei viele Menschen leben, die demokratisch denken, demokratische Werte leben und darauf hoffen, dass sie vielleicht eines Tages wieder ihre alte Türkei zurückbekommen.“