Wer trägt Schuld an Brückeneinsturz in Genua?
Nach dem Einsturz der Autobahnbrücke in Genua prägen Schuldzuweisungen die politische Debatte in Italien. Wirtschaftsminister Di Maio machte das Unternehmen Autostrade verantwortlich. Innenminister Salvini beklagte, die europäischen Defizitregeln stünden der Sicherheit im Land im Weg. Kommentatoren geben auch dem Staat die Schuld an dem Unglück, bei dem mehr als 40 Menschen starben.
Außerordentlich dummer Staat
Die Folgen des Brückeneinsturzes in Genua sind um ein vielfaches teurer, als es eine neue Brücke gewesen wäre, rechnet Jutarnji list vor:
„Ohne Autobahn zum Hafen, aber auch ohne Schienen, die unter den Trümmern der Autobahn verlaufen, wird das Erdöl für Nordeuropa nur schwer und teuer durchkommen, genau wie die Touristen für die Stadt, für Sardinien, oder für Kreuzfahrten, die in Genua starten. ... Nur ein außerordentlich dummer Staat kann es sich erlauben, fünf Milliarden zu riskieren, um ein, zwei Millionen zu sparen, was der Preis einer neuen Brücke gewesen wäre, selbst wenn sie mit Marmor gepflastert wäre.“
Italienische Mauschelei vertreibt die Fähigsten
Die Katastrophe von Genua offenbart ein grundlegendes Problem der italienischen Gesellschaft, analysiert The Guardian:
„Italien hat äußerst fähige Ingenieure hervorgebracht. Doch in einer Gesellschaft, in der nicht die Leistungsfähigkeit entscheidend ist, erhalten sie kaum Aufträge. Nicht die Kompetentesten kommen zum Zug, sondern die am besten Vernetzten. Schon vor Baubeginn der Brücke in Genua stürzte eine Konstruktion des Ingenieurs Riccardo Morandi in Venezuela teilweise ein. ... Das Fehlen einer auf Leistung aufbauenden Gesellschaft ist heute so spürbar wie in den 1960er-Jahren. Eine große Zahl der besten Ärzte, Wissenschaftler und Kapitalgeber sind Auswanderer. Italien wird nicht nur von der Ankunft von Einwanderern geprägt, sondern auch von der Auswanderung der eigenen Bevölkerung.“
Etwas ist faul im Staate Italien
Nach den tödlichen Unfällen der Erntehelfer ist der Brückeneinsturz bereits die zweite Tragödie innerhalb kurzer Zeit, die Italien erschüttert. Für den Historiker Ernesto Galli della Loggia haben sie einen gemeinsamen Nenner, wie er in Corriere della Sera schreibt:
„Es handelt sich um die Schwächung bis hin zum virtuellen Verschwinden des Staats, was die Vernachlässigung einer seiner wesentlichen Funktionen zu Folge hat, nämlich Kontrollen durchzuführen und Sanktionen aufzuerlegen. ... Es ist bekannt, dass die Italiener bei der Einhaltung der Gesetze immer etwas zu wünschen übrig ließen. Das Land hat sich aber mittlerweile so sehr gewöhnt an das Fehlen von Kontrollen und Sanktionen, an die zunehmende Straflosigkeit, dass diese das Herz und die Seele einer nationalen Anthropologie geworden ist. ... Die Folge ist eine soziale Atmosphäre, die Italien zu einem absolut anormalen Land machen könnte.“
Jetzt macht Sparpolitik noch mehr Angst
Der Staat darf sich nicht mit Sparpolitik und Privatisierungen von Infrastruktur aus der Verantwortung stehlen, mahnt Libération:
„Diese Tragödie trifft uns, weil Brücken Teil unseres Alltags sind. Wir benutzen sie, ohne darüber nachzudenken. Wir sind überzeugt von ihrer Zuverlässigkeit, und fühlen uns sicher angesichts der Milliarden Kilo Beton. ... Wenn selbst der Beton nicht mehr hält, was dann? Gerade jetzt jagt uns diese Idee einen Schauer über den Rücken, denn fast alle europäischen Staaten wollen ihre Budgets kürzen, an dieser oder jener Stelle sparen. Oft wollen sie die Verantwortung, die bisher von der öffentlichen Hand getragen wurde, an den Privatsektor abgeben. Da macht es Angst, wenn man daran denkt, dass 70 Prozent der 15.000 italienischen Brücken älter als 40 Jahre sind, oder dass sieben Prozent der französischen Brücken gefährdet sind.“
Stahlbeton-Bauten weltweit ein Sicherheitsrisiko
Stahlbeton-Konstruktionen, wie die der eingestürzten Brücke in Genua, zeigen allerorts Zeichen von Verfall, warnt The Economist:
„Nicht nur in Italien sollten jetzt die Praktiken zur Kontrolle und Instandhaltung hinterfragt werden. Brücken in ganz Europa, in den USA und in Asien zeigen Anzeichen von Baufälligkeit. Bereits im Jahr 1999 ergab eine Untersuchung, dass 30 Prozent aller untersuchten Straßenbrücken in Europa irgendeine Art von Schaden aufwiesen. Oft handelte es sich dabei um die Zersetzung der Armierung im Stahlbeton. ... Stahlbeton-Konstruktionen sind weltweit sehr weit verbreitet, es handelt sich um ein länderübergreifendes Problem. Der Zusammenbruch der Morandi-Brücke zeigt, dass es nicht ignoriert werden darf.“
Italien ist ein Gefangener des Euro
Die Mitgliedschaft in der Eurozone, kombiniert mit dem hohen Schuldenstand rächt sich für Italien nun bitter, klagt The Daily Telegraph:
„So wie es immer wieder vorkommt, dass Mietshäuser - insbesondere südlich von Rom - wegen Gaslecks explodieren, ist es auch nicht ungewöhnlich, dass Italiens verfallende Infrastruktur zu einem erschreckenden Verlust von Menschenleben führt. ... Um diese Infrastruktur zu modernisieren, würde es Unsummen an geborgtem Geld benötigen. Doch Italien ist ein Gefangener des Euro, und die Staatsverschuldung entspricht bereits 132 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist der vierthöchste Wert weltweit unter führenden Ländern. Die Zinszahlungen allein betragen 80 Milliarden Euro im Jahr.“
Sündenbock für staatliches Versagen
Salvinis Versuche, das Spardiktat der EU für den Einsturz der Brücke verantwortlich zu machen, sind unmöglich, findet hingegen 444.hu:
„Italien hat gerade die Zustimmung der EU erhalten, zehn Milliarden Euro für die Entwicklung seiner Infrastruktur auszugeben. Es wurde sogar betont, wie notwendig diese Investitionen sind. Auch in Genua war das schon lange Thema und auch die Morandi-Brücke wurde erwähnt. Der lauteste Gegner von Investitionen in die Infrastruktur war ausgerechnet die Fünf-Sterne-Partei. ... Die politische Klasse Italiens, egal welcher Couleur, muss damit aufhören, immer andere für ihr politisches Versagen verantwortlich zu machen, seien es die Migranten, die EU oder der Euro.“
Schäbiger Missbrauch der Trauer
Für De Morgen sind Salvinis Anschuldigungen der Gipfel des schlechten Geschmacks:
„Noch bevor die Opfer identifiziert sind, hat Salvini den Schuldigen gefunden: Europa, wer sonst? Was für ein kleiner Mensch, ein kleiner Un-Mensch, ist das eigentlich, wenn man so einen Moment der Trauer für den eigenen kleinen politischen Krieg missbraucht? Salvinis Erklärung ist lächerlich, vereinfachend und zielt einzig und allein auf Erfolg beim Wähler. Tatsächlich: Der rechtsextreme Populismus mit den kurzen Beinen ist wieder voll zurückgekehrt in Italien. Wir haben es bereits geschrieben und wir schreiben es nun erneut: Matteo Salvini beweist, dass rechtsextremes Pack auch nach der Vereidigung in der Regierung rechtsextremes Pack bleibt.“
Autobahnen wieder verstaatlichen
Italien muss seine Infrastruktur wieder verstaatlichen, rät 24 Chasa:
„Die Italiener bezahlen eine der höchsten Mautgebühren in Europa. Die 250-Kilometer-Strecke von Rom nach Florenz etwa kostet 18 Euro. Dieses Geld fließt direkt der Familie Benetton zu. Sie verdienen laut Vizepremier Luigi Di Maio Milliarden und führen nur wenig Steuern in Luxemburg ab. ... Eine Lösung des Problems wäre, den Betrieb der Autobahnen wieder dem Staat zu überlassen und einen Marshall-Plan zu entwerfen, mit dem Ziel die italienische Infrastruktur wieder sicher zu machen. Ein Großteil davon wurde in den 1960er und 1970er Jahren gebaut. ... Bis es aber soweit ist, sollte man bei der Fahrt über eine Brücke in Italien lieber drei Kreuze machen.“
Italien glaubt nicht mehr an die Zukunft
Das Land zerfällt, weil es sich gegen den Fortschritt stemmt, klagt Corriere della Sera:
„Italien ist ein Land, das in den 1960er Jahren erbaut wurde, seit den 1990er Jahren sich selbst überlassen ist und vor zehn Jahren begonnen hat einzustürzen. Und der Grund dafür ist, dass wir nicht mehr an den Fortschritt glauben. Alles scheint uns wichtiger zu sein: die Umwelt, die Sparsamkeit, die Bürgerausschüsse, der Rechnungshof, der Kampf gegen Verschwendung und Korruption. Es gibt immer einen guten Grund, nichts zu tun. Ein trauriges Zeugnis dieses strukturellen Versagens ist die politische Polemik, die schon entbrannte, als die Toten noch geborgen wurden. ... Das Problem ist, dass seit vielen Jahren weder Wartungen noch Großprojekte durchgeführt werden. ... Indem wir aufhören, für die Zukunft zu planen, verlieren wir auch das Know-how, das wir bei der Verwaltung des Bestehenden hatten.“
Verantwortliche haben Gefahr ignoriert
Alle Warnungen wurden überhört, schimpft La Repubblica:
„Die Tatsache, dass der Zustand der Brücke nicht mehr der gleiche war, wie vor fünfzig Jahren, war so offenkundig, dass der Autobahnbetreiber Autostrade Ende April eine Ausschreibung im Umfang von rund 20 Millionen Euro für die Realisierung von 'strukturellen Umbaumaßnahmen' am Viadukt ausgeschrieben hatte. ... Es sollte also solider und sicherer gemacht werden, was bedeutet, dass es weder ausreichend sicher noch solide war. ... Das hätte neben dem Alter der Brücke und ihrem Standort an einer kritischen Stelle gereicht, um eine umfassende Wartung zu rechtfertigen. Ungeachtet aller Zusicherungen, die wir in den letzten Stunden gehört haben, muss nun festgestellt werden, ob diese außerordentlichen Wartungen tatsächlich durchgeführt wurden und welche Rolle die vermuteten Kosten dabei möglicherweise gespielt haben.“
Nicht über Staus an Baustellen ärgern
Eine Botschaft an alle Autofahrer möchten die Westfälischen Nachrichten loswerden:
„Das Unglück hat nicht nur das Leben vieler Menschen in Genua beendet und das ihrer Familien und Freunde verändert. Es trifft auch uns. In den nächsten Monaten werden wir alle mit mulmigen Gefühl über große und kleine Brücken fahren und Erleichterung verspüren, wenn - wie ungezählte Male zuvor - nichts passiert. Grund genug zu ernsten Befürchtungen haben wir allemal. Nur zwölf Prozent der fast 40.000 Brücken in Deutschland sind in gutem oder sehr gutem Zustand. Bei fast ebenso vielen ist der Zustand nicht ausreichend, bei fast 800 ist er ungenügend. Vielleicht ärgern wir uns beim nächsten Stau vor einer Autobahnbaustelle nicht über die Wartezeit, sondern freuen uns, dass endlich etwas für unsere Sicherheit geschieht.“