Macron geht auf Gelbwesten zu
In einer Rede zur Energiewende hat Macron am Dienstag auch auf die Forderungen der Protestierenden in gelben Warnwesten reagiert. Er will die Ölpreise bei der Anhebung der Spritsteuer berücksichtigen sowie eine dreimonatige landesweite Konsultationsphase zu den sozialen Aspekten der Energiewende einläuten. Kann der Präsident so die Gelbwesten beschwichtigen?
Wollen wütende Bürger aufgeklärt werden?
Nun droht eine politische Blockade in Frankreich, fürchtet die Neue Zürcher Zeitung:
„Macron will an seinen Plänen festhalten und im Übrigen auf 'Aufklärung' setzen - aber wollen die wütenden Franzosen auf den Barrikaden sich überhaupt vom Präsidenten aufklären lassen? Es ist ein sehr französisches, dialektisches Ritual von Staatsmacht und Widerstand, das in diesem Fall mangels Organisation der Protestierenden noch reichlich konfus abläuft. Viel wird darauf ankommen, ob in den folgenden Wochen konstruktive Diskussionen über die Umsetzung der an sich sinnvollen Maßnahmen zustande kommen. Falls nicht, könnte aus den Straßenblockaden eine allgemeine politische Blockade resultieren.“
Die Schwäche des Einzelkämpfers
Für einen breiten Dialog mit den Bürgern ist Frankreichs Präsident aktuell nicht gerade gut aufgestellt, bemerkt La Croix:
„Angesichts der besonderen Umstände seines Wahlsiegs, zu dem er allein gegen alle anderen angetreten war, fehlt es ihm für die Realisierung derartiger Konsultationen auf eklatante Weise an Mittlerpersonen in der französischen Gesellschaft. Will er diese Krise überwinden, muss er deutlicher, als er dies in seiner Rede getan hat, eingestehen, dass er auf Kommunalpolitiker, politische Netzwerke, Gewerkschaften, Vereine, Kirchenvertreter, etc. angewiesen ist. Für seine Präsidentschaft wäre dies die unerlässliche Kehrtwende.“
Gegen die grüne Hoffnung
Die Proteste sind Ausdruck einer drohenden Spaltung der Gesellschaft, warnt der Soziologe und Publizist Paul Scheffer in seiner Kolumne in NRC Handelsblad:
„Das Pochen auf einen grünen Lebensstil kann das Misstrauen in der Gesellschaft vergrößern. Die Umweltparteien in Europa, die bei Wahlen so gut abschneiden, haben eine Verantwortung. Denn die Energiewende, für die sie plädieren, kann zu mehr Ungleichheit führen. Wer wird die enormen Beträge aufbringen, die nötig sind? ... Die Einkommen eines großen Teils der Gesellschaft stagnieren. Die Bereitschaft, höhere Umweltsteuern zu zahlen, ist gering. Wie werden wir die aufeinander prallenden Interessen versöhnen? ... Alles Engagement für die Umwelt kann ins Stocken geraten: Die Gelben Westen wenden sich gegen die grüne Hoffnung.“
Perfekte Gelegenheit für Unterwanderung
Der Verdacht der Instrumentalisierung liegt für La Stampa auf der Hand:
„Die Proteste sind von einer seltsamen Atmosphäre umgeben. Das konnte man vom ersten Moment an bemerken. Und es ist nicht gerade die Atmosphäre einer schönen populären, spontanen und brüderlichen Manifestation. Historiker werden zu gegebener Zeit sagen, ob die 'Lepenisten' und 'Melanchonisten' die Bewegung inspiriert haben. Inspiriert und infiltriert, oder ob sie sich auf sie gestürzt haben, wie auf eine Gelegenheit göttlicher Vorsehung, die sich ihnen auf dem Silbertablett anbot. Sicher ist, dass ein Tweet von Le Pen, die bedauerte, dass den Demonstranten die Champs-Elysées verboten wurde, ausreichte, damit Tausende von gelben Westen eben dort geschlossen auftauchten.“
Keine plötzliche Explosion
Für Ethnos sind die Ursachen der Protestbewegung klar:
„Wie lässt sich die vollständige Anpassung Frankreichs an die rigide deutsche Haushaltskürzungsdisziplin in der Eurozone mit der Aufrechterhaltung der Infrastruktur und dem Schutz der Umwelt kombinieren? Mit neuen Steuern, die hauptsächlich bezahlt werden von den Opfern von Kürzungen und der Schrumpfung des Sozialstaats. ... Die Rebellion der 'gelben Westen' war erwartbar, denn es ist kein plötzlicher Sturm, sondern Teil der Explosion sozialer und politischer Umbrüche der letzten 25 Jahre.“
Der liberale Messias trifft auf die harte Realität
Für den Unmut der Franzosen ist Macron verantwortlich, findet die regierungsnahe Tageszeitung Magyar Idök:
„Es ist angenehm, als liberal-progressiver Messias durch Brüssel und Straßburg zu wandeln und die Führer der Welt unter dem Triumphbogen zu empfangen, aber das wird die Franzosen nicht zufrieden stellen. ... Die wirklich wichtigen Fragen stellen sich die Menschen am Abendbrottisch. Zum Beispiel, warum Frankreich nicht in der Lage ist, die Arbeitslosigkeit unter die scheinbar in Stein gemeißelten zehn Prozent zu bekommen. Man kann die sehr starken Gewerkschaften und ihre Halsstarrigkeit dafür verantwortlich machen, teilweise zu Recht, aber diesmal sind nicht sie die Organisatoren. Diesmal ist es eine zivile Initiative von unten, die zum Massenprotest wurde und von etwa 70 Prozent der Franzosen unterstützt wird.“
Misstrauen als nationales Leitmotiv
Wenn die Menschen gegen die Spritsteuer demonstrieren, dann liegt das auch an einem Kommunikationsproblem, meint Les Echos:
„Die Franzosen hören Emmanuel Macron nicht zu. Seine Reden über Frankreich und die Politik gehen weit über ihren Horizont hinaus. Sie hören nicht zu, weil es nicht das ist, was sie hören wollen. ... Ist das Niveau der Reden des Präsidenten zu hoch? Sie kommen nicht an. Die Franzosen sind so pessimistisch geworden, egal, ob es um ihre Arbeit geht, um ihre Lebensart oder um die Zukunft ihrer Kinder. So besteht ihr einziger Ehrgeiz darin, das zu erhalten, was sie haben, doch nunmehr mit Verbissenheit und sogar mit Gewalt. Misstrauen ist die einzige nationale Devise geworden, und Reformen werden als Verlust erlebt, als blutiger Angriff auf die Kaufkraft.“
Politik hat keine Ansprechpartner mehr
Gazeta Wyborcza sorgt sich um die französische Demokratie:
„Was in Frankreich zu sehen war, ist vor allem eine klare Krise der repräsentativen Demokratie. Tausende Menschen sind auf die Straße gegangen und lehnen damit eindeutig ab, sich an ihre Abgeordneten, politischen Parteien, Gewerkschaften oder andere Organisationen zu wenden. Das ist der Grund für die Schwierigkeiten der Behörden, auf die Situation zu reagieren. Es gibt einfach niemanden, mit dem man reden kann.“
Wenig Spielraum für Macron
Wenig Chancen auf eine Annäherung zwischen Macron und den neuen Wutbürgern sieht die Neue Zürcher Zeitung:
„Die Regierung kann klein beigeben und auf die Zusatzsteuern verzichten. Damit würde sie sich Frieden erkaufen, allerdings wäre es ein Zeichen von Schwäche, und ihr finanzieller Spielraum würde stärker beschränkt. Eher ist ein lang andauernder Konflikt zu erwarten. Da müssten sich die 'Gilets jaunes' eine Struktur geben, und vermutlich würden sie ihre politische Unschuld verlieren. Systemkritische Parteien links und rechts stehen schon bereit, die Protestbewegung zu kapern und für ihre jeweiligen Zwecke zu instrumentalisieren. Jedoch wird dieses Aufbegehren keineswegs nur von Benachteiligten und Extremisten getragen. Laut einer Umfrage unterstützen es drei Viertel der Franzosen. Die Steuerrevolte ist breit abgestützt.“
Wasser auf Le Pens Mühlen
Die Proteste stärken die extreme Rechte, warnt der Paris-Korrespondent von Der Standard, Stefan Brändle:
„Vor anderthalb Jahren hatten viele dieser 'gelben Westen' ... den Hoffnungsträger Macron gewählt. Jetzt wenden sie sich enttäuscht ab. … Die Bewegung gegen die Benzinsteuer ist an sich nicht politisch. Sie ist aber auch nicht sehr kohärent, verlangt sie doch eine Steuersenkung, zugleich aber den Ausbau des 'Service Public' in den verarmten Landgegenden. Dieser Widerspruch rückt sie in die Nähe von Populisten, die, wie man in Italien sieht, den ärmeren Bürgern tiefere Steuern versprechen, ihnen aber zugleich den Ausbau des Sozialschutzes - etwa ein Universaleinkommen - vorgaukeln. Auf dieser Linie ist auch Le Pen. Sie weiß, dass der Protest der 'gelben Westen' Wasser auf ihren politischen Mühlen ist, ohne dass sie auch nur den kleinen Finger rührt.“