Brexit-Votum in London: Banges Warten auf das Nein
Showdown im Unterhaus: Am heutigen Dienstagabend entscheiden die Abgeordneten über das Brexit-Abkommen zwischen EU und britischer Regierung. Premierministerin May steht vor einer Niederlage und warnt, dass dann entweder ein Stopp des Brexit oder ein chaotischer Austritt ohne Deal drohe. Kommentatoren versuchen, das Chaos in Großbritannien in Worte zu fassen.
Sieg des Irrationalen
Für die Tageszeitung Die Presse offenbart das Chaos um den Brexit den desolaten Zustand der Politik:
„Was hier geschieht, zeigt auf, wie leicht es ist, Ängste vor äußeren Einflüssen in die Illusion der eigenen Stärke zu verwandeln. Allerdings nur, indem alles andere ausgeblendet wird: die europäische Geschichte, die wirtschaftlichen Prognosen und sogar die ersten erlebbaren Einschnitte in das tägliche Leben durch Währungsschwankungen und Arbeitsplatzabbau. Der Wunsch, sich die Welt selbstherrlich so zu gestalten, wie man möchte, ungeachtet der eigenen Entbehrungen und der erwartbaren Einsamkeit, das ist eigentlich eine Schwäche, die Menschen nach der Pubertät ablegen sollten. Es gibt jedoch populäre Politiker, die mittlerweile auch Erwachsene zu dieser - ursprünglich hormonell bedingten - Egozentrik verführen.“
Fest der Demokratie wurde zum ordinären Saufgelage
De Volkskrant-Kolumnist Bert Wagendorp ist angesichts der Entwicklungen in Großbritannien ebenfalls perplex:
„Das Fest der Demokratie ist ausgeartet zu einem ordinären Saufgelage, bei dem die Gäste in den Gardinen hängen und sich gegenseitig aus dem Laden kloppen. Mit Demokratie hat das alles nicht mehr viel zu tun. Persönliche und parteipolitische Interessen sind wichtiger geworden als die Frage, ob dem Land mit einem Brexit gedient ist. ... Das Brexit-Referendum hat ein stabiles Land gespalten und seine Politiker zu Lemmingen verwandelt, die sich von den weißen Klippen in See stürzen. Das gab ein fabelhaftes Schauspiel - aber es ist auch ziemlich tragisch.“
Der Stillstand zieht sich wie Kaugummi
Die Ausweglosigkeit wird nicht dadurch besser erträglich, dass man sie künstlich verlängert, meint El Mundo resigniert:
„Begräbt Westminster das Abkommen, steht Europa erneut vor einer unsicheren Lage mit unendlich vielen Zukunftsfragen, auf die es keinerlei sichere Antwort gibt. Brüssel hat sich bereits einen Verband angelegt, bevor die Wunde überhaupt da ist und spricht davon, dass man den Brexit mehrere Monate nach hinten verschieben könne. Doch was hat man davon, die Zeit wie ein Kaugummi auszudehnen? Die große Verantwortungslosigkeit, zum Brexit-Referendum aufzurufen, hat in eine Sackgasse geführt: Die Briten kommen nicht voran und auch das restliche Europa ist gelähmt.“
Dublin sollte wichtiges Zugeständnis machen
Falls sich London und die EU nach dem Brexit nicht auf ein Freihandelsabkommen einigen, verbleibt ganz Großbritannien in der Zollunion und eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland wird verhindert. Das sieht der im Brexit-Abkommen enthaltene "Backstop" vor. Dublin sollte bereit sein, auf diese bei britischen EU-Gegnern verhasste Klausel zu verzichten, fordert The Irish Independent:
„Wenn in den kommenden Wochen die Wahrscheinlichkeit eines No-Deal-Brexit noch größer wird, muss der irische Regierungschef Leo Varadkar die schwierigste Entscheidung seines politischen Lebens treffen. Er ging ein großes Risiko ein, als er im November 2017 den Backstop an den Verhandlungstisch brachte. Wenn es nun nötig ist, dass er auf diesen verzichtet, um einen No-Deal-Brexit und dessen dramatische Folgen für die Menschen in diesem Land zu verhindern, dann sollte er das tun.“
Wie Brüssel einen No-Deal-Brexit verhindern kann
Die EU muss einen Aufschub des Brexit nun ganz klar ausschließen, rät Financial Times:
„Die britischen Abgeordneten haben derzeit drei Optionen: Ein Abkommen mit der EU, kein Abkommen oder keinen Brexit. ... Viele EU-Anhänger glauben, dass die Chancen auf ein zweites Referendum gut stehen. Gleichzeitig gibt es EU-Gegner, die davon überzeugt sind, dass sie einen Austritt ohne Abkommen bekommen können. .... Theresa May und die EU werden den von ihnen ausgehandelten Deal nur durchs Unterhaus bringen, wenn klar ist, dass der Brexit nicht mehr zu verhindern ist. Das mag auf den ersten Blick unsinnig erscheinen. Doch in einer Situation, in der eine Mehrheit der Abgeordneten einen No-Deal-Brexit ablehnt, ist dieser Schritt logisch. Wenn die Abgeordneten dieses Szenario vermeiden wollen, und die EU die 'No Brexit'-Option vom Tisch nimmt, bekommt man - zack - den ausgehandelten Deal.“
Parlament schiebt No Deal den Riegel vor
Dass sich die Unterhaus-Abgeordneten mit allen Mitteln gegen einen harten Brexit ohne Abkommen wehren, freut New Statesman, sieht er dessen Folgen doch als fatal an:
„Anstatt ein führendes Mitglied der EU zu sein, würde ein stark geschwächtes Großbritannien vor einer wenig beneidenswerten Wahl stehen: Es könnte ein Satellitenstaat der 'America-First'-USA unter Donald Trump oder auch der unterdrückerischen und expansionistischen chinesischen Diktatur werden. Die Folgen für Bürger, Verbraucher und Unternehmen wären katastrophal. ... Die Verfechter eines totalen Bruchs mit der EU sollten die Wahrheit sagen und nicht länger falsche Mythen propagieren, dass alles gut werden wird. Das wird es nämlich nicht.“
Mays Speer ist nun stumpf
Kolumnist Gerardo Morina sieht in Corriere del Ticino Premierministerin May kurz vor dem Fall:
„Je näher der schicksalhafte Termin des offiziellen Austritts Großbritanniens aus der EU, der 29. März, rückt, desto chaotischer wird die politische Situation in London. ... Mays letzte siegversprechende Waffe ('Ohne Abstimmung droht der No Deal') hat sich in einen stumpfen Speer verwandelt. … Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen in diesem langen Tauziehen zwischen London und Brüssel, zwischen Brexit-Befürwortern und Pro-Europäern. Die britische Premierministerin jedoch scheint nur noch einen Schritt vom Abgrund entfernt, und selbst wenn sie fällt, wird das vielleicht nicht ausreichen, um das Brexit-Chaos zu stoppen.“
Kein Ausweg aus der Sackgasse
Wie weiter, fragt Hospodářské noviny:
„Wenn bis Dienstag kein Wunder geschieht, muss Regierungschefin May die übrigen EU-Mitglieder bitten, den offiziellen Austrittstermin zu verschieben. Auf der anderen Seite des Ärmelkanals ist zwar der Wille vorhanden, eine annehmbare Lösung zu finden. Aber der bisherige Verlauf der Geschichte zeigt, dass May etwas aushandelte, das zuhause nicht durchsetzbar ist. Man wird fragen, ob sich das nicht wiederholen wird. Bleiben zwei Wege: vorzeitige Wahl oder ein zweites Referendum über den Brexit. Für beide Optionen aber reicht die Zeit bis zum offiziellen Austrittstermin - Ende März - nicht mehr.“
Der Misstrauensantrag liegt bereit
Das Parlament nimmt May immer deutlicher die Vorbereitungen des Brexit ab, kommentiert Gazeta Wyborcza:
„Die Abgeordneten hatten sich bereits das Recht gesichert, Änderungen an Mays Plänen vorzuschlagen. Dies ermöglicht ihnen, der Downing Street zu diktieren, in welche Richtung sie gehen soll: Verlängerung der Vorbereitungszeit für den Brexit? Harte Trennung ohne Vertrag? Zweites Referendum? ... Die Tage nach der Abstimmung am Dienstag werden turbulent werden, denn alles deutet darauf hin, dass Labour einen Misstrauensantrag gegen Mays Regierung einreichen wird. Die Partei hatte das lange angekündigt und gewartet, bis sie die besten Erfolgschancen hat.“