Welche Folgen hätte ein Brexit-Aufschub?
Die britischen Parlamentarier stimmen am 12. März erneut über das Brexit-Abkommen mit Brüssel ab. Sollte es erneut abgelehnt werden, soll das Parlament zwei Tage später über eine Verschiebung des Austritts abstimmen, um einen ungeregelten Brexit zu vermeiden. Kommentatoren diskutieren die Vor- und Nachteile eines Aufschubs.
Verschiebung würde Mays Position schwächen
Eine Verzögerung des EU-Austritts um mehrere Monate würde in der entscheidenden Phase der Verhandlungen nur Brüssel nützen, warnt The Sunday Times:
„Die übrigen EU-Länder haben die Verhandlungstaktik der britischen Regierungschefin mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Unverständnis zur Kenntnis genommen. Sie sind der Londoner Spielchen müde. Doch die EU hat keinen Grund, sich allzu große Sorgen zu machen. ... Eine Verschiebung des EU-Austritts stärkt die Position Brüssels in den Verhandlungen massiv. Großbritannien kommt in die Rolle eines Bittstellers, der mehr Zeit braucht, weil die Regierungschefin das eigene Parlament nicht dazu bringen konnte, das von ihr ausverhandelte Abkommen mit der EU gutzuheißen. Eine bereits geschwächte Premierministerin wird dadurch in Europas Augen noch schwächer.“
Noch viel mehr Zeit ist nötig
In Sachen Brexit brauchen beide Seiten deutlich mehr Zeit, fordert der Historiker Timothy Garton Ash fordert in La Repubblica:
„Der Brexit wird insbesondere von einer Verlängerung des Artikels 50 abhängen. Eine kleine Verlängerung, die nun unvermeidlich ist, würde May nur helfen, den Druck ('mein Abkommen oder kein Abkommen') auf unschlüssige Abgeordnete zu erhöhen - und mit ein wenig Hilfe aus Brüssel könnte sie damit Erfolg haben. Doch nur eine echte Verlängerung um neun Monate oder ein Jahr würde eine echte nationale Debatte ermöglichen. Das würde bedeuten, dass das schwierige Thema der britischen Repräsentation im neuen EU-Parlament von Anfang an angegangen werden muss. Am Ende stünde ein zweites Referendum und die Möglichkeit, dass Großbritannien in der EU bliebe. Es wäre ein kurzfristiger Schmerz für einen langfristigen Gewinn.“
Briten agieren wie Gangster
Die Art und Weise, wie die Regierung in London versucht, der EU ihre Brexit-Ziele aufzuzwingen, empört The Times of Malta:
„Die britische Seite hat ihre Verhandlungsführer ohne klares Mandat des eigenen Parlaments agieren lassen. Sie hat vier Mal das Verhandlungsteam gewechselt. Und die die Verhandlungen führende Partei repräsentierte nur 29 Prozent des Wahlvolks. ... Die Europäer können sich nur wundern, wie die Dinge in jenem Land gehandhabt werden, das sich gerne brüstet, die älteste Demokratie zu sein. Sorry, aber das ist absurd und verdient es nicht, ernst genommen zu werden. Großbritannien hat versucht, einen alten Verhandlungstrick von Gangstern anzuwenden, die drohen und auf Zeit spielen, wenn sie nicht imstande sind, ihre Ziele durch Verhandlungen zu erreichen.“
Londoner Elite tritt Volkswillen mit Füßen
Dass das Unterhaus eine Verschiebung des Brexit möglich gemacht hat, empört The Sun:
„Vor bald drei Jahren gaben die Wähler den Abgeordneten einen klaren Auftrag: Bringt uns raus aus der EU. Unglaublicherweise weigern sich die Parlamentarier, den Auftrag zu erfüllen. Wie auch immer sie es schönzureden versuchen, daran darf niemand zweifeln. Die Klasse der Abgeordneten erklärt den Wählern, dass sie sich zum Teufel scheren sollen. ... Vor aller Augen wird ihr klar zum Ausdruck gebrachter Wille missachtet. ... So handelt eine Bande von Tyrannen, deren 'Verschiebung' unseres EU-Austritts nur ihren Technokraten-Kollegen in der EU-Kommission nützt. Und genau darum geht es. Sie fühlen sich den Eliten auf dem Kontinent näher als den Angehörigen der britischen Arbeiterklasse.“
Scheidung ohne Verzögerung durchziehen
Von einem möglichen Aufschub des Brexit ist auch Denik wenig begeistert:
„Das Hauptproblem des gesamten Brexit ist, dass es keinen vernünftigen Grund für die Briten gibt, die Union zu verlassen. Der Aufschub des Austritts aber, über den jetzt diskutiert wird, ist ein schlechter Schritt. Er ist höchstens besser als die Aussicht auf einen ungeordneten Brexit. Es ist fraglich, ob ein neues Referendum etwas lösen würde. Großbritannien würde dann vielleicht in der EU bleiben, aber die Sache hätte einen faden Beigeschmack. Aus heutiger Sicht ist die Scheidung die beste Variante. Und zwar wie geplant, am 29. März.“
Premierministerin setzt Abgeordnete unter Druck
May versucht weiter mit allen Mitteln, ihren Brexit-Deal durch das Parlament zu bekommen, vermutet Sydsvenskan:
„Die Verschiebung der Abstimmung [auf den 12. März] ist augenscheinlich der Versuch, den Druck auf das Unterhaus zu erhöhen. Mit nur zwei Wochen bis zum Austrittsdatum können die Parlamentarier kaum erwarten, dass das bestehende Abkommen neu verhandelt wird. Das könnte theoretisch Mays Möglichkeiten erhöhen, Stimmen auf ihre Seite zu bekommen.“
Briten gewinnen Zeit zur Selbstfindung
Der Plan von May scheint derzeit der einzig gangbare Weg, stellt The Irish Independent resigniert fest:
„Es scheint so, als ob wir jetzt bestenfalls darauf hoffen können, uns weitere Monate, wenn nicht sogar Jahre, mit dem Brexit herumzuschlagen. Offenbar ist das die 'vernünftige' Lösung in dieser Phase, nur einen Monat vor dem geplanten EU-Austritt Großbritanniens. ... Die Verschiebung könnte Großbritannien zumindest die Möglichkeit bieten, sich zu überlegen, was der Brexit bedeutet. Doch sie birgt auch ein Risiko, das sich Unternehmen nicht leisten können: Mehrere Monate lang wird weiterhin Unsicherheit herrschen.“
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben
Keine Seite würde von einer Verschiebung des Brexit profitieren, findet The Daily Telegraph:
„Eine Verschiebung bringt keine Einigung, nur eine weitere Verzögerung. ... Die Gefahr eines möglichen ungeregelten Brexit wird drei Monate später immer noch gegeben sein. ... Warum sollten außerdem die politischen Führer der EU einer wochenlangen Fortsetzung dieser Folter zustimmen, wenn dabei kein konkretes Ziel erkennbar ist? Was könnte sie dazu bewegen, eine dreimonatige Aufschiebung des Brexit zu erlauben, wenn Vereinbarungen, die sie mit der britischen Regierung über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren erzielt haben, schon zweimal abgelehnt wurden?“
Verschiebung wäre für EU der Gau
Die Ankündigung von Theresa May, den Brexit möglicherweise zu verschieben, ist ein gefährlicher Winkelzug, warnt Der Standard:
„Großbritannien würde dann an EU-Wahlen im Mai als vollberechtigtes Mitglied teilnehmen, neue EU-Abgeordnete stellen. Die Briten würden über Programm und Zusammensetzung der neuen EU-Kommission (nach Juncker) mitentscheiden, auch über den Budgetrahmen der EU bis 2027, aus der sie austreten wollen - mit Vetorecht. Das wäre für die Union der Gau. Sie wäre nach Belieben erpressbar. May könnte in Brüssel Katz und Maus spielen.“