Sollten Briten an EU-Wahl teilnehmen?
Die EU-Staats- und Regierungschefs werden am heutigen Mittwoch mit hoher Wahrscheinlichkeit einen weiteren Brexit-Aufschub gewähren. Laut eines Beschlussentwurfs müsste Großbritannien dann an der EU-Wahl teilnehmen und sich bis zum endgültigen Austritt "konstruktiv" und "verantwortungsvoll" verhalten. Nicht alle Kommentatoren halten es für eine gute Idee, dass die Briten bei der Wahl dabei sein könnten.
Imageverlust für die Union
Die Teilnahme Großbritanniens an der Europawahl würde Glaubwürdigkeit der EU ruinieren, warnt Der Standard:
„Vielen erscheint die EU wieder als eine Art Stabilitätsanker in unsicheren Zeiten. Auch abseits von Gemeinplätzen wie der Gurkenkrümmung oder der üblichen 'Wir gegen die'-Rhetorik wurden europäische Themen wieder Teil politischer Alltagsdiskussionen. Dieses neugewonnene Zutrauen wäre mit einem Mal zerstört. Den Bürgern und Bürgerinnen lässt sich die Farce einer Europawahl mit den Briten nicht ohne Imageverlust verkaufen. Nutzen könnte das wiederum den Kräften im EU-Parlament, die es nicht gut meinen mit der Weiterentwicklung der Union.“
Trojanisches Pferd im Parlament
Wer raus will, sollte keinen Fuß mehr in der Tür haben, findet auch El País:
„Erlaubt man Großbritannien die Teilnahme an der Europawahl im Mai sowie die Teilhabe an der Verantwortung in den Institutionen, kann es diese als Plattform für den Boykott der wichtigsten EU-Vorhaben nutzen. Allen voran der gemeinsamen EU-Außenpolitik, die Einstimmigkeit benötigt und in der sich London bezüglich Venezuela bereits auf die Seite von Donald Trump schlägt. Andere Bereiche sind nicht weniger gravierend: die Verhandlungen über den langfristigen EU-Etat, bei denen London gerne egoistische Kämpfe ausficht oder die Neubesetzung der Posten innerhalb der EU. ... Europa hat schon genug Probleme am Hals, und sollte nicht auch noch ein fettes Trojanisches Pferd hereinlassen.“
Gemeinsam für Europa kämpfen
Die Teilnahme Großbritanniens an der EU-Wahl böte die Chance, das pro-europäische Zentrum im Parlament zu stärken, meint hingegen der Historiker Timothy Garton Ash in The Irish Times:
„Wir britischen Europa-Freunde sollten das als unsere nächste große Herausforderung annehmen. In einem Tweet zitierte [der britische EU-Gegner] Jacob Rees-Mogg wohlwollend Teile einer Bundestagsrede von Alice Weidel, die der rechtsextremen, populistischen AfD angehört. Und genau darum geht es: Unser britisches Ringen mit EU-Gegnern wie Rees-Mogg, Boris Johnson und Nigel Farage ist nicht getrennt zu sehen von jenem der Deutschen mit der AfD, jenem der Italiener mit dem rechtsextremen Vizepremier Matteo Salvini, jenem der Polen mit der nationalistischen PiS und jenem Emmanuel Macrons mit der Hardlinerin Marine Le Pen. Es handelt sich um den gleichen Kampf. Den Kampf um Europa.“
Verbündete gegen mehr Integration
Warum Paris und Berlin unterschiedlicher Meinung hinsichtlich eines Brexit-Aufschubs sind, erklärt The Independent:
„Keine der beiden Seiten hat jemals formell den Wunsch geäußert, dass die Briten den Klub verlassen sollten. Doch es drängt sich klar der Eindruck auf, dass der Brexit die Franzosen weniger bedrückt als die Deutschen. Großbritanniens historischer Widerstand gegen eine stärkere Zentralisierung auf europäischer Ebene, der Jahrzehnte zurückreicht, ist ein großes Hindernis für Emmanuel Macron, der sich 'mehr Europa' wünscht. ... Im Gegensatz dazu sind die Briten für die Deutschen, Niederländer und Skandinavier äußert wertvolle Verbündete im Widerstand gegen eine allzu rasante weitere EU-Integration und all jene Pläne, die das europäische Projekt bei den Wählern so unbeliebt gemacht haben.“
EU folgt dem Prinzip Hoffnung
Der Politikwissenschaftler Valentin Naumescu glaubt in Contributors, dass die EU eine erneute Verschiebung des Austritts gewähren wird:
„Obwohl nicht klar ist, ob dieser neuerliche Aufschub der EU oder Großbritannien guttun wird, wird sich wahrscheinlich das Prinzip durchsetzen, demnach das britische Parlament eine weitere Chance verdient, solange die Hoffnung besteht, dass es das Abkommen noch verabschieden könnte. Auch wenn die Geschichte des Brexit immer hässlicher wird und alle Welt enttäuscht scheint - auf beiden Seiten des Ärmelkanals - über diesen kläglichen Fehler der Politik und das Ende der Zugehörigkeit Großbritanniens zur EU (1973-2019).“