Notre-Dame in Flammen
Die Kathedrale Notre-Dame de Paris, eines der berühmtesten Bauwerke Frankreichs, ist vom Feuer schwer beschädigt worden. Am Montagabend war die 800 Jahre alte Kirche in Brand geraten, als Auslöser werden Renovierungsarbeiten vermutet. Kommentatoren beschäftigen sich mit der Symbolik der Katastrophe.
Vernachlässigt wie das Christentum
In der beschädigten Kathedrale findet das Onlineportal Vasarnap Parallelen zum Zustand der christlichen Religion in Europa:
„Niemand kümmerte sich, man ließ das Gotteshaus verrotten. Verantwortliche der katholischen Kirche drängten schon im vergangenen Jahr auf eine Restaurierung, und dann wurde unter großen Schwierigkeiten schleppend damit begonnen. Und jetzt ist sie - wahrscheinlich wegen der Gedankenlosigkeit eines einzelnen - fast vollkommen vernichtet worden. Als wir die rauchenden Wände ohne Dach sahen, erblickten wir nicht nur Notre-Dame. Dort unter der Ruine befindet sich auch das vernachlässigte, bemitleidenswerte westeuropäische Christentum. Und wissen Sie, was die gestürzte Turmspitze symbolisierte? Den in Richtung Gott ausgestreckten Finger. Auch den gibt es nicht mehr.“
Unsere Kultur fackelt ab
Der Bild-Journalist Alexander von Schönburg ruft angesichts der brennenden Kathedrale zur inneren Einkehr auf:
„Das ganze Christentum Europas ist ja gerade dabei, seine Rolle als Leitplanke unserer Kultur einzubüßen. Anders gesagt: Das Christentum fackelt ab. Und wir schauen hilflos, zum Teil mitleidslos, sensationslüstern, vielleicht sogar schadenfroh zu. ... Wir dekonstruieren derzeit alles. Religion. Familie. Moral. Sexualität. Die Geschlechter. Alles. Wir schmeißen alles, was jemals galt, aus dem Fenster. Was bleibt, ist Nihilismus. ... Vielleicht ist es an der Zeit, unsere egomane, auf Befriedigung unserer Gelüste, auf Konsum und Ich-Ich-Ich gerichtete Kultur zu überdenken. Vielleicht ist der Brand von Notre-Dame als Warnung zu verstehen, uns auf Grundkoordinaten unserer Kultur zu besinnen.“
Brannte nur eine Sehenswürdigkeit?
Es ist unklar, was da eigentlich gebrannt hat, bemerkt Evenimentul Zilei:
„Zu was ist Notre-Dame de Paris geworden - außer einer Sehenswürdigkeit für Touristen? Die perfekte Vorlage für Kühlschrankmagneten, der ideale Hintergrund für ein Ferienbild, Königin halbintellektueller Selfies? ... In einer Zeit, in der unsere Zivilisation ihre Symbole abreißt und der alte Kontinent seine Bilder kastriert, damit keine Kreuze in der Landschaft zu sehen sind, ist es für viele Zeitgenossen nicht mehr als eine touristische Sehenswürdigkeit, die da gebrannt hat. Auch für viele Politiker. ... Doch für viele andere stellt der Brand einer Kathedrale in der Karwoche ein Omen dar.“
Das Herz der Nation ist getroffen
Seine Trauer um Notre-Dame drückt der Historiker Camille Pascal in Le Figaro so aus:
„Es ist eine Amputation des nationalen Gedächtnisses und der französischen Identität - eine Amputation ohne Betäubung. Diese Kathedrale wacht seit achteinhalb Jahrhunderten über Frankreich: Jedes glückliche oder unglückliche Ereignis wurde ausnahmslos vom Läuten ihrer Glocken begleitet. Und all die verschiedenen politischen Lager übergreifend kann man ohne Übertreibung sagen, dass es das Herz der Nation ist, das da in Flammen steht. Das sind wir. Egal, ob man aus einer Familie stammt, die seit Generationen französisch ist, oder aus einer, die es erst seit gestern ist, und egal, welcher Religion man angehört, Notre-Dame de Paris, das ist Frankreich.“
Wenn Gewissheiten wanken
Auch Bert Wagendorp, Kolumnist bei De Volkskrant, ist erschüttert:
„Es ist merkwürdig zu spüren, wie eine brennende Kirche einen berühren kann. Wahrscheinlich ist das Gefühl vergleichbar mit dem, was man spürt, wenn jemand stirbt, der das ganze Leben da war. Dann wanken Gewissheiten. ... Ich war so gewöhnt, dort vorbei zu gehen, wenn ich in Paris war, und das ist ziemlich oft. Ich ging nie rein, die Schlangen waren viel zu lang. Es war für mich mehr eine Art Bestätigung: Sie steht noch. Ich bin noch da, vorläufig ist alles sicher. 'Es ist, als ob ein Stück von einem selbst weg brennt', schrieb mir gestern ein Freund. Und genau das war gestern geschehen.“
Todesstoß oder Wiedergeburt?
Manchmal bewirken Katastrophen Wunder, meint Kolumnist Aldo Cazzullo in Corriere della Sera:
„Die Feuersbrunst kann auch eine Chance für Frankreich sein. Das Land kann den Zusammenhalt wiederfinden, der durch die Wirtschaftskrise, durch die Unsicherheiten des Präsidenten, durch eine sterile und manchmal gewalttätige Opposition auf die Probe gestellt wurde. Seit Jahrzehnten erlebt das Land, das dazu beigetragen hat, der Welt die Menschenrechte und Europa den Traum von Demokratie zu geben, ein großes Unbehagen, das sich nicht allein durch den Rückgang der Kaufkraft und die Zerstörung von Arbeitsplätzen erklären lässt. Frankreich zweifelt an sich selbst. Das Feuer, das Notre-Dame verwüstet hat, kann der Todesstoß sein, aber es kann auch das Zeichen einer möglichen Wiedergeburt sein. Der Schmerz, aber auch der Stolz in der Nacht auf den Straßen der Hauptstadt zeugt davon.“
Aus Zerstörung wächst Kraft zum Neubeginn
Keine Zweifel an einem Wiederaufbau von Notre-Dame lässt Dagens Nyheter:
„Unsere moderne Zivilisation ist gut darin, mit Unfällen umzugehen. Wir können aufbauen, restaurieren, mit größtem Respekt wiederherstellen und rekonstruieren. ... Nun werden sich gute Kräfte aus der ganzen Welt sammeln, um beim Wiederaufbau zu helfen. Denn so funktionieren wir Menschen, wenn wir am besten sind. Wir trauern, erheben uns, blicken nach vorne, beginnen zu bauen. Seit 700 Jahren hat Notre-Dame Schönheit, Geborgenheit, Bewunderung, Hingabe, Weltliteratur und die Gegenwart Gottes hervorgebracht. Es ist schwer, daran zu glauben, wenn die Welt die Bilder von Flammen, grauem Rauch und einstürzenden Türmen sieht. Doch die Kathedrale wird diese Gefühle wieder erwecken.“
Europäische Identität ist keine Illusion
Die europaweite Anteilnahme an der Zerstörung der Kathedrale beweist etwas Wichtiges, schreibt der Historiker und frühere EU-Abgeordnete Rui Tavares in Público:
„'Es kann keine europäische Demokratie geben, weil es keine europäische Identität gibt', wiederholten immer wieder einige Intellektuelle, die sich in den letzten Jahren dem Nationalismus ergeben haben. Die Solidarität zwischen den Ländern sei sowieso Humbug, sagten sie, denn diese könne es nur dann geben, wenn man eine nationale Geschichte, Kultur und Schicksal teile. Nun, ich fordere jeden auf, der die Bilder der brennenden Notre-Dame gesehen hat, zu sagen, ob sie dies nicht als einen Verlust der eigenen Identität wahrgenommen haben? ... Wir alle verdanken Notre-Dame einen guten Teil unserer europäischen Identität.“