Grand débat: Ändert Macron seine Politik?
Macron hat seine Schlussfolgerungen aus der großen nationalen Bürgerdebatte vorgestellt. Zu den teils konkreten, teils noch vagen Ankündigungen zählen unter anderem höhere Renten, niedrigere Steuern, weniger staatliche Ausgaben, eine stärkere Einbindung der Bürger und bessere Unterstützung für Alleinerziehende. Kommentatoren bewerten den Auftritt und die Versprechen des Präsidenten.
Wie ein Kapitän im Sturm
Alexei Tarkhanov, Frankreich-Korrespondent von Kommersant, lobt Macron, weil dieser nicht vor den Gelbwesten zu Kreuze gekrochen ist:
„Das wäre zum einen nicht seine Art. Zum anderen widerspräche es aber auch den Aufgaben des französischen Präsidenten, der sich laut Verfassung immer verhalten sollte wie der Kapitän eines Schiffes im Sturm. Er allein trifft Entscheidungen, er allein ist verantwortlich, dass diese Entscheidungen wirken. ... Macron hat sich nicht direkt an das Volk gewandt, in der Art und Weise, wie man auf einer Großdemonstration auftritt, sondern er sprach mit Journalisten, denen man nicht beibringen muss, wie man Reden seziert. ... Sein Zielpublikum sind Menschen, die keine Gewalt anwenden, nicht die Schreihälse oder das Lumpenproletariat, nicht die Reichen und nicht die Armen, sondern jener beständige Ballast, der Frankreich nicht kentern lässt.“
Guter Mix aus Vernunft und Gefühl
Macrons Krisenmanagement ist vorbildlich - auch für die EU, lobt der Politologe Maurizio Ferrera in Corriere della Sera:
„Der Wiederaufbau der französischen Gesellschaft, die Stärkung Macrons und vor allem der Beginn einer 'zweiten Phase' wirksamer sozialer und wirtschaftlicher Reformen sind eine gute Nachricht für ganz Europa. Denn sie zeigen vor allem, dass es möglich ist, auf die soziale Krise und die Mobilisierung ihrer 'Verlierer' zu reagieren, ohne gegen die EU zu rebellieren und populistischen Rezepten nachzujagen. Macrons Strategie ist eine Mischung aus Zusicherungen und der Aufforderung zum Wandel, Bürgerbeteiligung und Einbeziehung von Experten. Eine Strategie, die gleichermaßen auf 'Vernunft und Gefühl' basiert, (wir sind die Erben der Aufklärung, erinnert der Präsident). Wie auch immer man dies bewerten will, es ist ein neuer Weg, und das gilt nicht nur für Frankreich.“
Präsident bleibt auf ultraliberalem Kurs
Frankreichs Staatschef ignoriert die soziale Schieflage, auf die die Demonstranten aufmerksam machen, kritisiert Le Courrier:
„Hat der Präsident die Forderungen und die kolossalen Ungleichheiten, aus denen sie resultieren, wirklich verstanden? Hat er kapiert, dass die soziale Herausforderung in Frankreich jede Woche zunimmt? Falls ja, sind seine Antworten umso enttäuschender. Er kündigt eine Senkung der Einkommensteuer an, nicht jedoch die Wiedereinführung der Vermögenssteuer. Gleichzeitig verspricht er eine Stärkung des öffentlichen Diensts, was aber eine Kürzung im Staatshaushalt erfordert. Und wo wir gerade bei Widersprüchen sind: Den Franzosen, die unter prekären Jobs leiden, die zu mageren Renten führen, sagt er, dass ihre Arbeitszeit verlängert werden soll. Macron will die ultra-liberalen Reformen, die im Land zu Unruhe und Gewalt führen, hemmungslos durchziehen.“
Große Debatte, mickriges Ergebnis
Die Vorhaben sind keinesfalls ein großer Wurf, kritisiert Mediapart:
„Weniger als ein Neustart war dies eher eine Methodenkorrektur. Der Staatschef will die Logik seines Präsidentschaftswahlkampfs wiederherstellen, die ihm etwas abhandengekommen ist: den neoliberalen Umbau des Landes entschlossen vorantreiben und darauf setzen, dass die Steuersenkungen die Ruhe wiederherstellen, bevor sich seine Hoffnung auf Vollbeschäftigung bis 2025 verwirklicht. Er will gewissermaßen sein sozialliberales Image aufpolieren, indem er dem linken Flügel seiner Wirtschaftsberater Gehör schenkt, ohne den rechten Flügel zu vergrätzen. ... So läuft er erneut Gefahr, alle zu enttäuschen. Große Debatte, mickriges Ergebnis.“
Liberalismus mit menschlichem Antlitz
Macron bleibt seiner Wirtschaftpolitik treu, lobt das Finanzblatt Les Echos:
„Politisch gesehen beginnt seine Präsidentschaft gerade erst. Wirtschaftlich hält er Kurs, und zwar ohne dabei wie viele seiner Vorgänger zu schlingern, weil sie Ängste abbauen wollten, dabei aber das Wachstum in den Graben fuhren. Mit seinen Zentren für Behördenangelegenheiten in jedem Wahlkreis oder den garantierten Unterhaltszahlungen für alleinerziehende Mütter macht Emmanuel Macron den Liberalismus menschlicher, ändert aber die Richtung nicht. Er verspricht, die Steuersenkungen für Berufstätige nicht auf Pump, sondern durch Einsparungen und eine dynamischere Wirtschaft zu finanzieren. Die Umgestaltung des Landes erfährt keine Anpassung, sondern erhält endlich einen Sinn: jedem erlauben, am Fortschritt teilzuhaben.“
Hoffnungsträger darf nicht scheitern
De Standaard hofft, dass Macrons Ankündigungen die Gemüter beruhigen werden:
„Vielleicht hat das Feuer in Notre-Dame Macron geholfen. Es führte zu einem Gefühl der Einheit bei den Franzosen und gab ihm die Möglichkeit, sich als Präsident zu profilieren. ... Man kann nur hoffen, dass Macrons Rede bei möglichst vielen Franzosen gut ankommt. Seine Wahl war schließlich der Beweis, dass auf das Unbehagen über den Status Quo noch eine andere Antwort möglich ist als der Populismus. Eine aufbauende und Hoffnung gebende Antwort. Wenn Macron scheitert, dann wird auch dieses positive Gefühl zerschmettert.“