EU-Osterweiterung: Was bleibt von der Euphorie?
Am 1. Mai 2004 erlebte die EU die größte Erweiterung ihrer Geschichte: Estland, Lettland und Litauen, Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn sowie Slowenien, Malta und Zypern traten dem Binnenmarkt und der Gemeinschaft bei. Auch wenn viele neue Mitglieder vom Beitritt profitierten, stehen die Zeichen derzeit nicht auf harmonisches Zusammenwachsen, erkennen Kommentatoren.
Ost und West gehen getrennte Wege
West- und Osteuropa entfernen sich immer weiter voneinander, konstatiert der linke Philosoph Gáspár Miklós Tamás in Mérce:
„Wenn Viktor Orbán - gerade er! - im ungünstigsten Moment in Subotica für den EU-Beitritt Serbiens streitet, während auf den Straßen Tausende gegen das System von Präsident Aleksandar Vučić demonstrieren. ... Dann fasst er es in einer einzigen politischen Geste zusammen: Osteuropa will das, was Westeuropa nicht will. Noch genauer: was Westeuropa verabscheut. Nämlich Gewalt, das Ende des Pluralismus, ethnische Konflikte, Chaos, Korruption, Polizeistaat und Militarismus. Es lässt sich nicht mehr vertuschen. Der politische Bruch ist vollkommen. Die EU wird nur noch von den Interessen des deutschen Kapitals zusammengehalten.“
Endlich wieder im Schoß der Familie
Der EU-Beitritt ist das Beste, was Lettland passieren konnte, findet Inese Vaidere, EU-Abgeordnete der lettischen Konservativen, im Onlineportal Delfi:
„Ich erinnere mich an die Situation in Lettland, als wir der EU beitraten. Das war nur 14 Jahre nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit und Lettland litt immer noch an den Folgen der sowjetischen Besatzung. Der EU-Beitritt eröffnete Lettland einzigartige Möglichkeiten. Wir kehrten in die Familie derjenigen Länder zurück, zu denen wir gehören. Wir haben die EU-Gelder bekommen, wir sind wieder auf dem gemeinsamen Markt, wir können wieder in Europa frei reisen und arbeiten. Ich frage mich oft, wo Lettland wäre, wenn es keine EU gäbe. ... Der Beitritt ist das Beste, was uns passieren konnte.“
Der Blick in die Statistik sagt alles
Wie sehr sich der Beitritt gelohnt hat, rechnet die Wirtschaftszeitung Verslo žinios vor:
„Nicht alles lässt sich mit Zahlen messen, aber diese sprechen deutlich für Litauens Vorteile durch den EU-Beitritt. ... 2004 betrug das BIP pro Kopf, unter Berücksichtigung der Preisunterschiede, 49 Prozent des EU-Durchschnitts. Bis 2017 stieg dieser Indikator auf 78 Prozent und im kommenden Jahr überschreitet er höchstwahrscheinlich die 80-Prozent. Die ausländischen Direktinvestitionen stiegen von 25 Prozent auf 41 Prozent des BIP. Die Summe der bisher erhaltenen EU-Förderung beträgt etwa 15 Milliarden Euro. Vor 15 Jahren machte Litauens Export von Waren und Dienstleistungen 40 Prozent des BIP aus. Im vergangenen Jahr erreichte der Export fast 85 Prozent des BIP und war einer der größten der gesamten EU.“
Es konnte nicht schnell genug gehen
Dass alle Seiten im Zuge der EU-Osterweiterung Fehler gemacht haben, glaubt Népszava:
„Der Westen damit, dass er es aus politischer Angst mit dem Anschluss der postsozialistischen Länder vielleicht zu eilig hatte. Die ungarische politische Elite damit, dass sie zu viele Erwartungen hegte. Das Volk schließlich damit, dass es eine schnelle Anpassung erwartete, vor allem an das westliche Lebensniveau. Niemand war sich darüber im Klaren, welches Demokratiedefizit, welche tiefen historischen Wunden, welch nationalistischen Wundbrand der mittel- und osteuropäische Raum mitschleppt.“
Tschechen müssen noch immer viel lernen
Kommentator Martin Ehl vermisst politische Weitsicht bei seinen tschechischen Mitbürgern, wie er in Hospodářské noviny schreibt:
„Die Mehrheit der Tschechen hat keine klaren Werte und schaut nur danach, was ihr aktuell von Vorteil sein könnte. Anfang der 1990er Jahre waren das die offene Grenze, der freie Markt und der Aufbau der Demokratie. Seitdem die Welt komplizierter als erwartet wurde, suchen die Leute nach jemandem, der einfache Lösungen verspricht. ... Die Tschechen - aber nicht nur sie - müssen lernen, Teil des politischen und demokratischen Westens zu sein. Für ihre eigene Zukunft, für ihre Vorwärtsentwicklung, für ihre Freiheit. Die vergangenen Jahre haben dazu offenkundig nicht ausgereicht.“
Ein Zeugnis geopolitischer Weitsicht
Die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern vor 15 Jahren war mutig und richtig, findet Der Standard:
„Hätte 2004 der Mut zur Erweiterung gefehlt, Europa hätte seine fortdauernde Teilung riskiert. Mag sein, dass deshalb nicht gleich ein neuer Eiserner Vorhang oder gar ein gewaltsamer Konflikt entstanden wäre. Doch die ostmitteleuropäischen Staaten hätten bei der gemeinsamen Gestaltung des Kontinents weiterhin nur die zweite Geige gespielt - mit dem Risiko, sich in der Rolle einer innerlich zerrissenen Pufferzone zwischen West und Ost wiederzufinden. Die Erweiterung vor 15 Jahren hat uns dieses Szenario erspart.“
Westen muss geliehene Osteuropäer zurückgeben
15min wünscht sich eine EU-Politik, die die Migranten aus den "neuen" Mitgliedsländern in die Heimatländer zurücklockt:
„Die Osteuropäer, die das Leben im Westen ausprobiert haben, können einen Wandel in den neuen Mitgliedstaaten auslösen. ... Eine Rückwanderung im großen Rahmen wird nur dann geschehen, wenn die Westeuropäer verstehen, dass die Osteuropäer, die sehr viel zum wirtschaftlichen Aufschwung des Westens beitragen, jetzt zu Hause besser zu gebrauchen sind. ... Osteuropa hat viele schöne Städte und Dörfer - dank der gut ausgebauten Infrastruktur durch den EU-Strukturfonds. Jetzt kommt die Zeit, da auf den neuen Straßen und Bürgersteigen die Osteuropäer wandeln müssen, die nach Hause zurückgekehrt sind. Die Leute, in deren Köpfen weniger postsowjetisches und mehr westliches Denken herrscht.“