Welche Themen muss die EU endlich angehen?
Mit den Wahlen in Großbritannien und den Niederlanden hat die EU-Wahl am heutigen Donnerstag begonnen. Laut einer aktuellen Studie des Thinktanks European Council on Foreign Relations machen sich Wähler insbesondere Sorgen um die Wirtschaft und den Aufschwung des Nationalismus. Doch die wirklich wichtigen Themen fehlten im Wahlkampf, bemängelt Europas Presse.
Worüber Europa wirklich reden sollte
Wichtige Themen unserer Zeit sind im Wahlkampf völlig unterbelichtet, bedauert El Periódico de Catalunya:
„Ein Blick auf die anstehenden Entscheidungen im EU-Parlament (vom EU-Haushalt über die Reform der Asylpolitik und des Schengenraums bis zum Schutz der privaten Kommunikation) vermittelt die Tragweite der künftigen Entscheidungen der nun zu wählenden EU-Abgeordneten. Fügt man dann noch die internen Probleme der EU hinzu (der Brexit und seine Folgen, das Erstarken der Rechtsextremen, das Demokratiedefizit, Regeln für die Eurozone) sowie jene großen Themen, die nur auf globaler Ebene gelöst werden können (bestes Beispiel ist der Klimawandel), so ist es überraschend, welch geringe Rolle diese großen europäischen Debatten für die EU-Parlamentswahlen spielen.“
Klimawandel bedrohlicher als Rechtsruck
Der Kampf gegen den Klimawandel sollte auf EU-Ebene oberste Priorität haben, fordert Irish Examiner:
„Die Europawahl in dieser Woche ist die wichtigste seit der Errichtung der Gemeinschaft auf den Ruinen des Zweiten Weltkriegs. Wir werden wählen müssen: zwischen jenen Kandidaten, die normal weitermachen wollen wie bisher, und jenen, die bereit sind, schnell, hart, ideenreich und fair zu handeln, um die sich abzeichnende Klimakatastrophe so gut es geht abzuwenden. Wir müssen wählen: zwischen Stillstand und Überleben. Ja, es ist tatsächlich so ernst, so schockierend einfach. Trotz des europaweiten politischen Rechtsrucks, der das europäische Projekt untergräbt, ist der Klima-Kollaps das große Thema unserer Zeit - und die bei Weitem größte Bedrohung für unsere Kinder.“
Verpasste Chance für die Währungsunion
Im Wahlkampf wurden die großen Themen leider nicht behandelt, klagt die Neue Zürcher Zeitung:
„Der Zustand und mögliche Reformen der Währungsunion kommen zwar in einigen schriftlichen Wahlmanifesten vor. Öffentlich debattiert wurden sie aber fast gar nicht. Das ist insofern erstaunlich, als sich Griechenland zu Beginn der ablaufenden Legislaturperiode fast aus der Euro-Zone herauskatapultiert hätte und die Schuldenkrise die ganze Währungsunion durchgeschüttelt hat. ... Diese kollektive Verdrängung könnte sich schon bei einer nächsten Krise rächen. Immerhin schwelt in Italien eine Schuldenkrise. Und noch ist die Währungsunion kein wirklich stabiles Konstrukt. Der Europawahlkampf wäre eine Gelegenheit gewesen, mögliche Reformen und die künftige Ausrichtung der Eurozone zu thematisieren.“
Polen klammert die wichtigen Themen aus
Es ist beunruhigend, dass europäische Themen im polnischen Wahlkampf keinen Platz finden, kritisiert Rzeczpospolita:
„Die Europawahlen werden weitgehend darüber entscheiden, worüber der polnische Sejm in einigen Jahren abstimmen wird, da das Europäische Parlament das EU-Recht mitgestaltet, das später vom polnischen Parlament umgesetzt wird. Leider gehören die Polen bei der Wahlbeteiligung zu den Schlusslichtern in Europa. 2014 entschied weniger als ein Viertel der Wahlberechtigten über die Vertretung Polens in Brüssel. ... Polen sollte sich um einen Platz im 'harten Kern' der Union bemühen, weshalb wir uns auf Themen konzentrieren sollten, die Europas Zukunft prägen: den Kampf gegen den Klimawandel, Verteidigung und Sicherheit, die digitale Revolution, die Entwicklung künstlicher Intelligenz und die Folgen dieser Trends für die Gesellschaft.“
Sozialunion nicht vernachlässigen
Pravda zählt eine ganze Reihe an Themen auf, die im Wahlkampf eine Rolle spielen sollten:
„Europa muss dringend nach Alternativen zur Konsumgesellschaft suchen, die mit den begrenzten materiellen Ressourcen unseres Kontinents oder unseres Planeten nicht vereinbar ist. Die lauteste Kritik an der EU bezieht sich auf ihren bürokratischen Apparat und auf zu viele Kompetenzen. Von einer Sozialunion ist im Gegenteil noch wenig die Rede. Dabei sollte das die nächste Stufe der Integration sein, die auf der Wirtschafts- und Währungsunion aufbaut.“
Europäischer Mindestlohn längst überfällig
Macrons Liste Renaissance will einen europäischen Mindestlohn einführen und auch die SPD macht mit dieser Forderung Wahlkampf. Doch leider bekommt das Thema keinen Schwung, bedauert Michel Husson von Attac in Alternatives Économiques:
„Die EU-Wahl wäre eine Gelegenheit gewesen, um über einen europäischen Mindestlohn zu diskutieren. ... Es geht nicht um einen absoluten, sondern um einen relativen Wert. Das Ziel ist, eine gemeinsame europäische Sozialnorm festzulegen, die den Gegebenheiten jedes einzelnen Landes angepasst ist. ... Dennoch droht das Projekt nicht in Fahrt zu kommen, auch wenn es nur eine kleine Maßnahme zur Bekämpfung der Ungleichheit innerhalb der EU und der Eurozone wäre. Muss man dies als einen Hinweis auf eine im europäischen Gemeinschaftsprojekt angelegte Unfähigkeit interpretieren, sich von seiner extrem auf Wettbewerb ausgerichteten Logik zu lösen?“
Klimaschutz statt Agrarsubventionen
Die Agrarsubventionen machen über ein Drittel des EU-Budgets aus, rechnet Jyllands-Posten vor. Die Tageszeitung hofft, dass hier endlich etwas getan wird:
„In der besten aller Welten gibt es keine Staatssubventionen, doch momentan ist nicht zu erwarten, dass die Landwirtschaft ihre völlige Freiheit erlangt. Deshalb ist es lebenswichtig, dass das Agrarland Dänemark bei der Europawahl das Thema Landwirtschaft auf die Tagesordnung setzt. Im Gegensatz zu den französischen Kollegen sind die Dänen nie einer sachlichen Debatte ausgewichen - auch nicht wenn es darum geht, die Subventionen in Bereiche zu verlagern, die in den kommenden Jahrzehnten eher die Tagesordnung bestimmen werden: Klima und Nachhaltigkeit.“
Bürger sehnen sich nach Geborgenheit
Europas Politik sollte einen bedeutenden gesellschaftlichen Wandel besonders berücksichtigen, findet Polityka:
„Bis in die 1960er-Jahre befanden sich die westeuropäischen Bürger in einem dichten Netz aus sozialen Bindungen, das ihnen zwar Grenzen setzte, aber Sicherheit gab. ... Die Kirche bot ihnen Rituale und eine spirituelle Entwicklung, die generationsübergreifende Familie schützte den Bürger vor Armut und half ihm bei Krankheit, die Gewerkschaften verteidigten seine wirtschaftlichen Interessen, Volksparteien vertraten seine politischen Interessen. ... Der Zusammenbruch der Schwerindustrie, die Entwicklung der Dienstleistungen und Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt führten zum Verschwinden dieser traditionellen Institutionen. ... Persönlich sind wir unabhängiger geworden, aber wir haben unser Gefühl der Sicherheit und Zugehörigkeit verloren.“