Kann Europa nach der Wahl aufatmen?
Die teils sehr unterschiedlichen Europawahl-Ergebnisse in den Einzelstaaten ergeben in der Summe ein klares Bild: Die Fraktionen von Christ- und Sozialdemokraten verlieren deutlich. Liberale und Grüne verbuchen Gewinne und auch das euroskeptische bis rechtsnationalistische Spektrum legt klar zu. Aus unterschiedlichen Gründen betrachten einige Kommentatoren das Wahlergebnis mit Sorge.
Zersplitterung macht EU weniger handlungsfähig
Der EU-freundliche Block im Europa-Parlament hat zwar weiter die Mehrheit, geeint ist er freilich nicht, analysiert Financial Times:
„Die alten, etablierten Mitte-links- und Mitte-rechts-Parteien befinden sich im Niedergang. Sie verlieren Boden nicht nur an populistische Nationalisten, sondern auch an Parteien, die eine urbanisierte Mittelklasse ansprechen, wie etwa die Grünen und die Liberalen. ... Die Folge ist vermutlich eine Phase politischer Unsicherheit und Veränderung, die die Handlungsfähigkeit der EU untergraben wird. Die Tatsache, dass das Mitte-rechts-Lager, die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Grünen allesamt grundsätzlich EU-freundlich sind, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bei Schlüsselthemen wie beim Klimawandel und der Reform der Eurozone sehr unterschiedliche Ansichten vertreten.“
Ein stärker polarisiertes Parlament
Auch Polityka rechnet mit einer neuen Stimmung im Europäischen Parlament:
„Die pro-europäischen Christ- und Sozialdemokraten haben stark verloren, dafür profitierten die Liberalen und die Grünen und erhielten mehr Anhänger. Die konservativen Euroskeptiker der EKR (zu denen auch die Tories und die PiS gehören) haben stark verloren, aber dafür profitierten die noch strengeren Kritiker der Europäischen Union, die sich um Salvini und Farage versammeln. Diese Ergebnisse verändern das ideologische Gleichgewicht der Kräfte in Brüssel zwar nicht wesentlich, aber sie führen zu einer stärkeren Polarisierung im Europäischen Parlament.“
Ultrarechte dürfen nicht zur Normalität werden
Die Wahlerfolge ultrarechter Parteien bescheren ihnen einen neuen Status in Europa, bedauert das Internetportal T24:
„Bei dieser Wahl hat das Volk die Parteien in der Mitte bestraft, die begonnen hatten, den extremen Parteien zu ähneln und gar versucht hatten, sie zu imitieren. Stattdessen wandte sich das Volk den Originalen am rechten und linken Rand zu. … Wir leben in einer Zeit, in der die Ultrarechte sich aus der Marginalität löst, die Chemie der Parteien in der Mitte zerstört und ihre Diskurse kopiert werden. ... Es wäre absolut falsch, diese politische Entwicklung als vorübergehend, regional begrenzt oder Unfall abzutun. Wenn keine radikalen und dauerhaften Maßnahmen ergriffen werden, wird das in den 1950er Jahren anvisierte Europa wohl nur als Traum zurückbleiben.“
Spiel der Populisten noch nicht vorbei
Die Gefahr des Populismus ist noch nicht gebannt, warnt Helsingin Sanomat:
„Die Überraschung bei dieser Wahl war, dass die populistischen Parteien doch keinen gesamteuropäischen Wahlsieg errungen haben. Das lag vielleicht nicht daran, dass sie ihre Unterstützer nicht haben mobilisieren können, sondern dass sie schlichtweg nicht mehr Unterstützer haben. ... Wer sich von dieser Wahl erhofft hatte, dass sie die Vertiefung der EU-Zusammenarbeit stoppt, wird sicher enttäuscht werden. Aber das Spiel der Populisten ist noch nicht vorbei. Die größte Macht in der EU haben die Mitgliedstaaten. Der Aufstieg der Populisten in einigen EU-Ländern kann dazu führen, dass diese ihre nationalen Interessen stärker auf Kosten der Gemeinschaftsinteressen verteidigen.“
Ein Dank an die Jugend
Die jungen Wähler haben Europa gerettet, freut sich Andrea Bonanni, Korrespondent aus Brüssel, in La Repubblica:
„Die Europäer, die von den Souveränisten zu einem Anti-EU-Referendum aufgerufen worden waren, wehrten, mit Ausnahme derer in Italien und Frankreich, die Gefahr ab. Der seit Jahrzehnten anhaltende Trend der Stimmenthaltung wurde umgekehrt, über die Hälfte der 430 Millionen Wähler ging wählen. Insbesondere viele junge Leute. Wenn Europa heute gerettet ist, dann ist es vor allem ihr Verdienst. … Die Kampfansage an Europa ist gescheitert, die von den Großmächten, die der EU feindlich gesinnt sind - Moskau, Washington und Peking - eingeleitet und von den Rechtspopulisten getragen wurde. ... Die überwältigende Mehrheit der Europäer bleibt der Idee einer liberalen Demokratie treu, die die politischen und sozialen Rechte ihrer Bürger garantieren kann.“
Die Mitte muss jetzt zusammenhalten
Das Erdbeben ist ausgeblieben, doch nun muss die europäische Mitte konstruktiv zusammenarbeiten, notiert Dagens Nyheter:
„Insgesamt scheint mehr als ein Viertel der Mandate auf Parteien wie die italienische Lega, die polnische PiS und die Schwedendemokraten zu fallen. Aber es ist trotz allem keine Mehrheitsbewegung und untereinander sind die Nationalisten zudem zersplittert, was es ihnen schwerer machen wird, für Unruhe zu sorgen. Wenn die europafreundlichen Kräfte der breiten Mitte Kompromisse finden, wird es auch nach dieser Wahl möglich sein, die Arbeit im EU-Parlament auf eine konstruktive Weise voranzubringen.“
EU bleibt im Schwebezustand
Wirklich etwas verändert hat sich für die Union mit diesem Urnengang nicht, konstatiert Fabio Pontiggia, Chefredakteur von Corriere del Ticino:
„Bereits auf Grundlage der Teilauswertungen und vorläufigen Daten von gestern Abend kann für diese mit Spannung erwartete Europawahl eine allgemeine Schlussfolgerung gezogen werden: Die EU befindet sich inmitten der Furt. Sie hat wahrscheinlich weder die Kraft, aus den Schwierigkeiten herauszukommen, mit denen sie infolge der Finanz- und Staatsschuldenkrise, der anschließenden Rezession und der Migrationsfrage konfrontiert war, noch die Schwäche, unter dem Druck des Protestes souveränistischer, nationalistischer oder populistischer Parteien und Bewegungen zu implodieren. Sie ist also weder zu stark noch zu schwach.“
Bedrohung macht sympathisch
Trotz vieler Unzulänglichkeiten in der EU-Politik haben die Wähler sich am Ende für die Union ausgesprochen, analysiert Dnevnik:
„Angela Merkel geht, Emmanuel Macron ist immer unbeliebter und verliert deshalb an politischer Macht. Auch unter den Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten ist niemand, der eine große Autorität ausstrahlt. ... Durch seine Sitze in Brüssel und Straßburg und die damit verbundenen Kosten liefert das europäische Parlament den Kritikern Munition, die die Bürokratie und die Geldverschwendung bemängeln. Das macht es auch schwer zu glauben, dass die EU die Wähler und ihre Bedenken versteht. Doch offenbar wird die EU dann sympathisch, wenn sie bedroht scheint, wie z. B. durch den Brexit oder Donald Trump. Sie ist wie ein hässliches, denkmalgeschütztes Gebäude, das erst dann die Sympathien gewinnt, wenn die Abrisskugel bereitsteht.“
Innenpolitik wird jetzt in Europa gemacht
Mit dieser Abstimmung sind Europa- und Innenpolitik nicht länger getrennte Sphären, konstatiert Die Presse:
„Ihre Bedeutung erlangt die Europawahl auf Umwegen: Sie zeigt nämlich, dass Innen- und Europapolitik kommunizierende Gefäße sind. Paradoxerweise entfaltet dieses europäische Votum die größte Wirkkraft auf nationaler Ebene: In Deutschland, wo nach dem Wahlsonntag das Schicksal der Großen Koalition auf Messers Schneide steht; in Polen, wo die EU-Wahl der liberalen Opposition Schub für die bevorstehende Parlamentswahl gibt; in Italien, wo der Umbau des Staates in Richtung einer illiberalen Republik munter voranschreitet; und in Großbritannien, wo das Waterloo der regierenden Tories den Verhandlungen um den EU-Austritt eine verhängnisvolle Dynamik verpassen wird. Innenpolitik wird nicht mehr ausschließlich im Inland gemacht.“