Österreichs Regierung stürzt über Misstrauensvotum
Rund zehn Tage nach Veröffentlichung des Ibiza-Videos hat das österreichische Parlament die Regierung von Bundeskanzler Kurz durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Die Sozialdemokraten hatten den Antrag eingebracht, der von der FPÖ unterstützt wurde. Präsident Van der Bellen wird nun eine Übergangsregierung berufen. Wem nützt der Sturz von Kurz?
Sternstunde der Demokratie
Der Deutschlandfunk begrüßt den Sturz des Kanzlers:
„Die Österreicher hätten gerne ein Weiter-so gehabt, das haben aktuelle Umfragen gezeigt. Kurz ist populär. Doch ohne Kratzer aus der Krawall-Regierung aussteigen - das wollten ihm seine Kollegen nicht durchgehen lassen. Das althergebrachte Politik-Modell Österreichs - Stabilität um jeden Preis, erkauft mit Großen Koalitionen und Hinterzimmer-Deals - hat sich überlebt. Das Misstrauensvotum gegen Kurz ist zugleich eine Sternstunde der Demokratie in Österreich. Die Parteien leben noch, und sie bieten einem kaltschnäuzigen Macht-Arithmetiker die Stirn. Das ist die gute Nachricht des Tages.“
Opposition schadet sich selbst
Mit der Absetzung von Kanzler Kurz haben SPÖ und FPÖ sich ins eigene Fleisch geschnitten, glaubt Der Standard:
„Ist dieses Votum langfristig klug? Sich als SPÖ - zumindest unter der aktuellen Parteiführung - den Weg zu versperren, nach der Wahl eine Koalition zu bilden? Sich als FPÖ eine Neuauflage von Türkis-Blau eher nicht offenzuhalten? Nach der Wahl wird es wieder Koalitionen brauchen. [SPÖ-Chefin] Rendi-Wagner und Hofer/Kickl [FPÖ] zerstören diese Brücken zur ÖVP gerade. Bei allem Verständnis für Parteitaktik: Eigentlich müsste es jetzt um etwas ganz anderes gehen. Das Ibiza-Video hat den Menschen gezeigt, wie rücksichtslos einzelne Politiker dazu bereit waren, die Interessen des Volkes zu verraten. Glaubhaft zu machen, dass man für dieses Interesse kämpft, müsste jetzt das Mindeste sein, um das Vertrauen der Menschen in die Politik wiederherzustellen.“
Triumph in der Niederlage
Österreichs gestürzter Bundeskanzler darf in der Niederlage einen Triumph feiern, glaubt die Neue Zürcher Zeitung:
„[Es] ist die paradoxe Situation entstanden, dass er trotz dem frühen und unrühmlichen Ende seiner Regierung nur gewinnen konnte. Wäre der Misstrauensantrag gescheitert, hätte sich die Opposition blamiert. Kurz hätte bis zur Neuwahl im September einen Wahlkampf als Kanzler führen können - mit der Strahlkraft und den Ressourcen des Amts. Stattdessen wurde er nun in eine Märtyrerrolle gedrängt. Wie perfekt er auch diese beherrscht, hat er in den vergangenen Tagen bereits bewiesen. Stetig wiederholte er, eine verantwortungslose rot-blaue [SPÖ-FPÖ] Allianz stürze das Land aus niederen parteitaktischen Motiven in die Instabilität. Diese Argumentation dürfte bei den Wählern verfangen.“
Wähler belohnen den Skandal
Warum die Partei von Österreichs Kanzler Kurz trotz tiefer Regierungskrise bei der EU-Wahl triumphiert hat, versucht die Tageszeitung Lidové noviny zu erklären:
„Bei einem politischen Erdbeben wie in Österreich würde man eigentlich erwarten, dass der Wähler die Regierung abstraft, egal ob deren Chef schuldig ist oder nicht. Die EU-Wahl hat in Österreich de facto das Gegenteil gebracht. ... Wo bleibt da die Logik? Womöglich haben die Wähler schon eine klare Meinung zur Reformregierung von Kurz und ihren Erfolgen. Aber vielleicht geht es in Österreich auch weniger um Logik als um Emotionen. ... Für einen Skandal kann man da auch noch belohnt werden. Und es gibt zudem noch Dinge, die nicht von Algorithmen bestimmt werden.“