Hunderttausende Tschechen protestieren gegen Babiš
Tschechien hat am Wochenende die größte Demonstration seit der Samtenen Revolution vor 30 Jahren erlebt. Die seit Wochen andauernden Massenproteste gegen den tschechischen Regierungschef Andrej Babiš wegen einer Korruptionsaffäre kulminierten am Sonntag in einer Massenkundgebung in Prag. Laut Organisatoren gingen mehr als 250.000 Menschen auf die Straße. Sie haben die Sympathien der Kommentatoren.
Prager Sommer
La Repubblica bejubelt die Proteste:
„Das hat es seit den Demonstrationen von vor dreißig Jahren in Prag nicht mehr gegeben, als die Jugendlichen der Samtenen Revolution - Schlagstöcken und Wasserwerfern zum Trotz - auf die Straßen gingen, um Dissidentenführer Václav Havel und dem alten kommunistischen Reformer Alexander Dubček zuzujubeln. Vor 1989 war es im August 1968 geschehen, als Jungen und Mädchen für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz demonstrierten und von russischen Panzern überrollt wurden. Gestern haben die Tschechen die Politik wiederentdeckt, sie haben ihre Hauptstadt zurückerobert. … Der Prager Wind verspricht, ansteckend zu werden im mittleren Europa, wo die Zivilgesellschaft immer weniger bereit ist, die überwältigende Macht der Autokraten zu erdulden.“
Babiš treibt Tschechien Richtung Ungarn
Verständnis für die Demonstranten zeigt auch Sme:
„Andrej Babiš ist dabei, sein Land in die Richtung des Viktor-Orbán-Freilichtmuseums Ungarn zu ziehen, in dem die Korruption zur Staatsdoktrin erhoben worden ist. Eine Viertelmillion Menschen aber machte am Sonntag deutlich, dass sich auch ein Wahlsieger nicht alles erlauben kann. 30 Jahre nach der glorreichen Revolution besiegen die Menschen wieder die Gleichgültigkeit, die Ohnmacht und das Gefühl, dass Gerechtigkeit nur eine Phrase und die Macht unantastbar ist. Auch Andrej Babiš kann ihre Stimme nicht lange ignorieren.“
Vorläufiger Rücktritt wäre Gebot des Anstands
Babiš sollte bis zur Klärung der Vorwürfe alle öffentlichen Ämter ruhen lassen, empfiehlt die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Das ist ein Gebot des Anstands, der Achtung vor der Justiz und des Respekts vor den Bürgern. Sollte er tatsächlich unschuldig sein, könnte er danach ja wiederkommen - die Mittel dazu hat er. Starke Zweifel an seiner persönlichen Integrität indes begleiten Babiš seit Beginn seiner politischen Laufbahn. Trotzdem ist er gewählt worden. Dass nicht nur in der Tschechischen Republik viele Menschen bereit sind, Männern seines Schlags jeden Schmutzfleck auf der Weste zu verzeihen, ist ein Rätsel.“
Wer hat den längeren Atem?
Das Kräftemessen zwischen Straße und Premier ist noch lange nicht entschieden, glaubt Právo:
„Wenn Babiš sich auf seinem Sessel länger hält als die Demonstranten ihren Enthusiasmus bewahren, hat er gewonnen. Bis zu den nächsten Wahlen vergehen noch zwei Jahre. Den Veranstaltern der Proteste wird es schwerfallen, die Demonstranten so lange bei der Stange zu halten. Schon jetzt sind erst einmal Sommerferien angekündigt. Erhöhte Aufmerksamkeit sollten die Demonstranten jedoch wenigstens den kommenden Jahrestagen schenken. Zumindest zum Jahrestag des Prager Frühlings, dem Nationalfeiertag Ende Oktober und dem Jahrestag der Samtrevolution sollte der gestrige Sonntag seine machtvolle Fortsetzung finden.“