Ist der No-Deal-Brexit unvermeidbar?
Weniger als drei Monate bleiben bis zum geplanten Austritt Großbritanniens aus der EU. Je mehr Zeit vergeht, desto weniger Hoffnung haben Beobachter, dass sich ein No-Deal-Brexit am 31. Oktober noch verhindern lässt. Premier Johnson beharrt darauf, den Backstop aus dem Austrittsvertrag zu streichen, die EU-Kommission lehnt das ab.
Zeitalter der Populisten, nicht der Parlamente
Gegner eines harten Brexit aus mehreren Parteien im britischen Unterhaus wollen einen ungeregelten Brexit notfalls gegen den Willen von Premier Johnson auf parlamentarischer Ebene verhindern. Doch das wird ihnen nicht leicht fallen, analysiert The Evening Standard:
„In unserer Zeit erscheint die Mentalität einer ungeduldigen direkten Demokratie besonders attraktiv: Es ist die Ära von Deliveroo, Uber und Amazon, nicht von parlamentarischem Prozedere. Eine Zeit, in der Wünsche mit Apps sofort und nicht durch lästige politische Prozesse erfüllt werden. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt, wie gefährlich die Taten von politischen Führern sind, die behaupten, die Stimme 'des Volkes' authentischer wiederzugeben als parlamentarische Versammlungen. Doch wir leben auch in einem Zeitalter des kulturellen Gedächtnisschwunds, in dem derartige schmerzhafte Lehren in Vergessenheit geraten.“
Bluffen bis zum Schluss
Selbst Johnson kann eigentlich nicht glauben, dass er mit seiner No-Deal-Taktik durchkommt, vermutet die London-Korrespondentin des Handelsblatt, Kerstin Leitel:
„Der Widerstand im Parlament ist zu groß. Würde er das aber schon jetzt anerkennen und einknicken, würde ihm das zum Verhängnis: Bei den nächsten Wahlen würden viele Wähler zur Brexit-Partei überlaufen. Nur wenn Johnson bis zuletzt den unnachgiebigen Hardliner gibt, kann er auf einen Wahlsieg hoffen, wenn er dann doch - ganz der vernünftige Politiker - Neuwahlen einberuft. Bis es so weit ist, wird Johnson die Vorbereitungen für den No-Deal-Brexit vorantreiben. Erst wenn das Parlament ihn stoppt, wird er anbieten, eine Verlängerung in Brüssel zu verlangen und Neuwahlen einberufen.“
Beim Euro war Brüssel doch auch flexibel
Die EU könnte durchaus auf London zugehen, und muss nicht auf stur schalten, findet The Daily Telegraph:
„Wer behauptet, dass die EU nicht in der Lage wäre, mit bestimmten heiligen und oft willkürlich definierten 'Prinzipien' zu brechen, liegt schlicht falsch. Während der Krise der Eurozone einigte man sich an einem einzigen Wochenende auf Rettungsfonds in Milliardenhöhe, die sowohl dem Geist als auch den konkreten Vorgaben der EU-Regeln widersprachen. Denn Deutschland hatte seine D-Mark nur unter der Voraussetzung geopfert, dass derartige Rettungsmaßnahmen vertraglich verboten werden. Und während des Chaos' in der Flüchtlingskrise, weigerten sich Mitgliedsstaaten schlicht, das Schengen-Abkommen weiter umzusetzen, mit dem Passkontrollen abgeschafft worden waren. Auch dabei handelte es sich um eine fragwürdige Beugung des Rechts.“
Nach No-Deal geht es von vorne los
Die britischen Verfechter eines radikalen Bruchs mit der EU erliegen einer falschen Vorstellung, warnt The Irish Independent:
„Ein No-Deal-Brexit würde das Thema keineswegs zu einem Abschluss bringen, sondern eine neue Runde von Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien in Gang setzen. Der ganze qualvolle Prozess würde neu beginnen, und das Top-Thema der schauerlichen Agenda wäre die Frage, wie man das Problem mit der irischen Grenze löst. EU-Ratspräsident Donald Tusk mag provokant gewesen sein, als er davon sprach, dass es 'in der Hölle einen besonderen Ort für jene gibt, die ohne Plan den Brexit vorangetrieben haben.' Doch seine Worte waren möglicherweise prophetisch.“
Das Volk steht nicht hinter Johnson
Käme es schlussendlich doch zu einem Brexit ohne Abkommen, wäre dies ganz und gar undemokratisch, meint die Kolumnistin Adelina Marini in Sega:
„Der Brexit ist nicht nur eine historische Entscheidung mit katastrophalen Folgen, sondern auch ein Putsch gegen die Demokratie. ... Die Brexiteers machen Druck für das Verlassen der EU, für das sie nicht einmal mehr einen Deal aushandeln wollen, mit der Begründung, das sei der Wille des Volkes. Doch die britischen Bürger haben für einen EU-Austritt mit Abkommen gestimmt. Abgesehen davon hat sich die Einstellung der britischen Bürger dem Brexit gegenüber seit 2016 wesentlich geändert. Man kann nur noch schwer behaupten, dass Boris Johnson und seine Clique ein Mandat haben, den EU-Austritt durchzuführen, schon gar nicht ohne Abkommen.“