Setzen Proteste in Moskau Putin unter Druck?
In Moskau haben erneut Zehntausende Menschen gegen den Ausschluss oppositioneller Kandidaten von der Stadtparlamentswahl Anfang September protestiert. Die Demonstration am Samstag war diesmal jedoch genehmigt. An den zwei vorangegangenen Wochenenden hatte die Polizei Hunderte Menschen festgenommen. Kommentatoren erklären, warum die Proteste eine Zäsur bedeuten könnten.
Auch die Ängstlichen mucken jetzt auf
Die Proteste in Moskau bringen zum ersten Mal die russische Opposition zusammen, analysiert Sega:
„Die Situation in Russland ist reif für einen politischen Wandel, und so könnte jeder noch so kleine Erfolg der Opposition die ängstlichen und verzweifelten Russen beflügeln, die bislang nicht glaubten, dass etwas von ihnen abhängt. … Im Zuge der skandalösen Kampagne gegen die Moskauer Duma haben die Machthabenden das Unmögliche erreicht. Sie haben die Opposition zusammengebracht. Die Wähler konnten zum ersten Mal sehen, wie sich die demokratischen Kandidaten gegenseitig unterstützen, geeint von ihrem Gefühl der moralischen Überlegenheit. Das ist der Anfang einer riesigen politischen Konsolidierung.“
Viel friedlicher als die Gelbwesten
Die Protestbewegung in Moskau ist bisher gewaltfrei vorgegangen, lobt der russische Journalist Alexey Kovalev in The Guardian:
„Die staatliche Propaganda rechtfertigt wie gewohnt die Polizeigewalt: 'Schaut her', sagen Experten und Behördenvertreter im TV, 'in Paris, Hamburg und Hongkong setzen die Sicherheitskräfte Tränengas, Wasserwerfer sowie Gummigeschosse ein und verletzen damit einige Demonstranten schwer. Das zeigt, wir gehen vergleichsweise sanft mit euch um!' Diese falschen Vergleiche könnten nicht weniger relevant sein. Im Gegensatz zu Paris ist in Moskau kein einziges Schaufenster zerstört und kein einziges Auto angezündet worden. ... Und im Gegensatz zum langen Forderungskatalog der Gelbwesten fordert die russische Opposition Unbedeutendes: Lasst Kandidaten der Opposition bei der Moskauer Stadtratswahl am 8. September antreten.“
Putin wird das Bauernopfer
Das Ende der Putin-Epoche ist nicht mehr weit, sagt der britische Journalist Edward Lucas in einem Kommentar für BNS voraus:
„Die neuesten Proteste in Moskau zeigen, dass für große Bevölkerungsteile in den Großstädten der Zeitpunkt für einen Umbruch gekommen ist. Aber Russland ist ein großes Land. Ich erwarte keinen großen Knall, der zu einer Änderung des Regimes führen wird. Es ist wahrscheinlicher, dass Putin wegen seiner sinkenden Popularität von den politischen Mächten geopfert wird. Ein geheimer politischer Deal hat Putin an die Macht gebracht. Ein geheimer politischer Deal kann ihn auch entfernen. Eine kosmetische Veränderung und keine Revolution ist eine glaubwürdigere Perspektive.“
Demonstrierende wollen politische Alternative
Dass es den Demonstrierenden längst nicht mehr nur um den Ausschluss von Oppositionellen bei der Wahl des Stadtparlaments geht, beobachtet Der Tagesspiegel:
„Sie stört der Stil, mit dem Präsident Wladimir Putin das Land seit bald 20 Jahren lenkt und den Bürgern die Teilhabe an politischen Entscheidungen verwehrt. Doch die Zivilgesellschaft lebt. Die Protestbereitschaft steigt sogar, und mit ihr die Hoffnung auf Veränderung, auf weniger Korruption, auf mehr Mitsprache, niedrigere Armut, höhere Lebensstandards. Von Putin können sie das kaum erwarten. Sie wollen den Stillstand überwinden und Alternativen zur sich arrogant gebarenden Staatsmacht.“
Gegen staatliche Gewalt, für die Menschenwürde
Auch Wedomosti beobachtet eine thematische Ausweitung der Proteste:
„Was als lokale Unzufriedenheit über die Aussperrung von Oppositionskandidaten zur Stadtratswahl begann, ist drei Wochen später - nach der brutalen Auflösung nicht genehmigter Proteste und dem absurden Ermittlungsverfahren wegen 'Massenunruhen' - zu einer weitaus breiteren Unzufriedenheit angewachsen: gegen staatliche Gewalt und für Menschenwürde in all ihren Formen. ... Die Aufweichung der Thematik des Protests hat diesen nicht aufgesplittert, sondern seine potenzielle Zuhörerschaft ausgeweitet. Die Menschen haben gezeigt, dass sie bereit sind, nicht nur für einen Wahlkandidaten, sondern auch für dessen verprügelte Wähler auf die Straße zu gehen. Und nicht nur gegen die Beschränkung des Wahlrechts, sondern auch für das Recht auf friedliche Versammlung und andere bürgerliche Freiheiten.“
Die Zivilgesellschaft bleibt standhaft
Die Desinformation des Kremls kann den Demonstrierenden bisher nichts anhaben, beobachtet der Tages-Anzeiger:
„Es ist schlimm genug, dass die staatlich kontrollierten Medien Demonstranten diffamieren. Aber es ist noch schlimmer, dass sie, auch darüber hinaus, die Wirklichkeit systematisch im Sinne Putins manipulieren und massenhaft Falschinformationen verbreiten. Das wirkt wie langsam einsickerndes Gift. Statt informierte Akteure einer Zivilgesellschaft formen die Medien so Unbeteiligte, die sich in Lethargie, Zynismus oder glühenden Patriotismus flüchten. Es ist deshalb erstaunlich und erfreulich zugleich, dass sich die Zivilgesellschaft trotz des anhaltenden Informationskrieges nicht einschüchtern lässt.“