Gelbwesten: Anspannung vor den nächsten Demos
Frankreichs Regierung zeigt Härte, nachdem die Proteste der Gelbwesten am Samstag in Paris teils wieder in Gewalt mündeten. Sie brachte Demonstrationsverbote ins Spiel und schloss auch neue präventive Festnahmen nicht aus. Zudem sollen am Wochenende Anti-Terror-Einheiten der Armee bestimmte Orte sichern. Journalisten fragen sich, was dieser harte Kurs bewirken könnte und welches Bild Frankreich derzeit abgibt.
Perfekte Vorlage für einen autoritären Nachfolger
Dagens Nyheter sieht den harten Kurs der Regierenden in Paris mit Sorge:
„Laut Gaspard Koenig vom Thinktank GenerationLibre ist Macron dabei, einen 'demokratischen Despotismus' zu erschaffen, bei dem die öffentliche Ordnung stets über das Recht des Individuums siegt. ... Macron wird liberal genannt. Das ist korrekt, insbesondere, wenn man ihn Marine Le Pen gegenüberstellt. Der Präsident hat jedoch auch eine anti-liberale Seite. ... Die Champs-Élysées zu verwüsten, ist nicht zulässig, Randalierer gehören eingesperrt, das ist klar. Aber ein liberaler Präsident, der seine Gegner unterdrückt, liefert einem autoritären Nachfolger allzu bequeme Vorlagen.“
Macron und Castaner wirken unsicher
Der Plan, am Samstag gegen die Gelbwesten Soldaten einzusetzen, zeugt für Der Standard von der Hilflosigkeit der Regierenden:
„Gerade die radikalsten Gelbwesten attackieren gerne Symbole des Staates: Sie wüteten beim Triumphbogen und rammten mit einem Hubstapler das Portal eines Ministeriums. Sollten dort platzierte Soldaten in einem solchen Fall ihr Gewehr entsichern? Unsicher wirkt … Innenminister Christophe Castaner. Er ließ es zu, dass die Champs-Élysées weithin dem Mob ausgeliefert waren. [Er] übertreibt … es zuerst mit dem Einsatz von Gummigeschossen, dann wieder überlässt er den Ultras das Feld. Unsicher, jung und unerfahren wirkt jetzt auch Macron. Dem Präsidenten geht die natürliche Autorität ab, die jetzt gefragt wäre.“
In Frankreich ist der Zorn besonders groß
Die Spaltung der Gesellschaft sitzt in Frankreich tief, konstatiert Libération:
„Das Spektakel der Gewalt, Zerstörung und Plünderung, das die Demonstranten der Gelbwesten am Samstag auf den Champs-Elysées veranstalteten, zeigt der Welt ein zerrissenes, krampfartig zuckendes, jähzorniges und zutiefst instabiles Land. Unablässig ist dieses Bild auf allen Sendern und in den sozialen Netzwerken zu sehen. Die 'schönste Avenue der Welt' als Beute der gewaltbereiten Randalierer und Hetzer, das ist die Parabel, die das Frankreich des 21. Jahrhunderts beschreibt. Natürlich gehören zu einer Demokratie Gegensätze, Widersprüche und Auseinandersetzungen dazu. Aber hierzulande sind die Brüche brutaler und tiefer als in den meisten anderen westlichen Ländern.“
Nun schlägt die Stunde der Gemäßigten
Gewalt als solche ist zu verurteilen, doch können die Exzesse während der Demonstrationen paradoxerweise positive Folgen haben, wirft Politologe Angelo Panebianco in Corriere della Sera ein:
„Die Gewalt der extremistischen Randgruppen kann auch positive Folgen für die Bewegung haben. Denn sie zwingt die Regierung, zwischen den Gewalttätigen und den so genannten 'Gemäßigten' zu unterscheiden, also denen, die innerhalb der Bewegung nicht die Gewalt wählen. Dies kann den sich selbst als moderat bezeichnenden Aktivisten unerwartete Handlungsspielräume eröffnen. Weil es sie in die Lage versetzt, zum möglichen Bezugspunkt der Regierung zu werden, sollte es zu Verhandlungen kommen. De facto muss die Regierung Gesprächspartner in der Bewegung suchen, um die Gewalttäter zu isolieren und zu besiegen.“
Macron wurde gewählt, um das Land zu verändern
Politiken erklärt, worauf sich Macron nun konzentrieren sollte:
„Es war ausgesprochen klug vom Präsidenten, die Proteste der Gelbwesten ernst zu nehmen, indem er den nationalen Dialog startete. … Jetzt ist dieser beendet und es wird Zeit, zu beweisen, dass die Botschaften in den goldenen Räumen des Élysée-Palasts gehört und verstanden wurden. Das ist keine leichte Aufgabe, denn die Gelbwesten verlangen so viel und so Verschiedenes. Aber Macron wurde eben mit dem Versprechen gewählt, Frankreich zu verändern und das Land aus dem jahrelangen politischen Stillstand zu führen. Jetzt muss er zeigen, dass er seine Versprechen einhalten kann - damit auch die weniger privilegierten Teile der französischen Bevölkerung erleben, dass ihre Stimme gehört wird.“
Hat hier jemand Revolution gesagt?
Die Bewegung der Gelbwesten ist anti-revolutionär, meint Le Soir:
„Man ist dabei, ein Monster zu schaffen oder zu seiner Kreation beizutragen: Linksextreme Flügel, rechtsextreme Füße, ein faschistisch-identitärer Schnabel, ein anarcho-libertäres Fell. Und Krallen und Zähne eines Raubtiers. Um sich zu nähren, verspeist das Monster die Demokratie. Sie sprechen von Revolution, aber in Wahrheit ist es eine Konterrevolution. Denn es ist die reaktionäre Bewegung, die von diesem Karneval profitiert. Alle Meinungsumfragen zeigen ein Bedürfnis nach Ordnung, einen konservativen Umschwung und einen Anstieg von Intoleranz und Hass. … Bei Wahlen bekämen Rechtsextreme, Konservative und gemäßigte Konservative 65 Prozent der Stimmen. Der linke Flügel, die gemäßigte Mitte eingeschlossen, läge bei 24 Prozent - das niedrigste Ergebnis seiner Geschichte. Hat hier jemand von Revolution gesprochen?“
Fataler Leichtsinn
Die Regierung hat komplett versagt, wettert Le Figaro:
„Auf die Androhungen eines 'Schwarzen Samstags' hat die Regierung mit schuldhaftem Leichtsinn reagiert. Sie hat die Unruhen nicht vorhergesehen und stand den Randalierern ohnmächtig gegenüber, was nicht nur Fragen aufwirft. Einen ganzen Tag lang zeigten sich Polizei und Gendarmerie überfordert, wurden belästigt, eingeschüchtert und sogar angegriffen. Zu keinem Zeitpunkt schienen sie fähig, die Lage zu kontrollieren und das Chaos zu beenden. … Die gesamte Strategie zur Wahrung der öffentlichen Ordnung muss überdacht und korrigiert werden. Seit vier Monaten, die die Gelbwesten-Bewegung nun schon andauert, stehen wir immer wieder vor derart empörenden Verwüstungen. Unerträglich, dass es dem Präsidenten und seinem Stab nicht gelingt, auf die Herausforderung angemessen zu reagieren.“
Komplizentum zerstört Glaubwürdigkeit
Eine Mitschuld der nicht gewalttätigen Mehrheit der Protestbewegung prangert La Libre Belgique an:
„Die Naiven werden weiter glauben, dass die Randalierer sich unter eine legitime Bürgerbewegung gemischt haben. Die Realisten werden feststellen, dass die 'Gelbwesten', die nicht zu Gewalt greifen, sich von den Gewalttätern nicht einmal distanzieren. Noch schlimmer: Wenn sie selbst nicht gewalttätig werden, bieten sie den Randalierern Unterstützung. Dieses schuldhafte Komplizentum vernichtet endgültig den kleinen Rest Glaubwürdigkeit und Legitimität, der der Bewegung noch blieb. Denn wie kann man es hinnehmen, dass Anarchisten und Profi-Randalierer die Champs-Élysées jeden Samstag in ein Spielfeld verwandeln?“
Um Frankreich steht es schlecht
Die zunehmend radikalisierten Gelbwesten gefährden die Demokratie, urteilt Der Standard:
„Ingrid Levavasseur, eine Kämpferin für eine Wahlliste bei den Europawahlen im Mai, wird aus den eigenen Reihen sexistisch belästigt und schlecht gemacht. Auch dem 'grand débat' von Emmanuel Macron verweigerten sich die meisten Gelbwesten zwei Monate lang. Die an sich sehr innovative und kreative Gesprächstherapie auf nationaler Ebene war deshalb nur ein halber Erfolg. Frankreich steht auch gesellschaftspolitisch vor einem Scherbenhaufen. Die Gelbwesten, die anfangs breiteste Sympathien genossen, verkommen zu einer radikalisierten, ja antiparlamentarischen Bewegung. Das ist Gift für die Kohäsion einer Nation, deren untere Mittelschicht verarmt und in den politischen Nihilismus wegbricht. Noch nie in den letzten Jahrzehnten stand es in Frankreich um die Institution und Idee der Demokratie so schlecht wie heute.“