Vor der Regionalwahl: Massenfestnahmen in Moskau
Erneut hat die Polizei in Moskau Hunderte Menschen festgenommen, die gegen den Ausschluss wichtiger Oppositionskandidaten von der Stadtparlamentswahl Anfang September protestierten. Liberale Kräfte hatten zu einem Protest-Spaziergang aufgerufen. Schon am Wochenende zuvor hatte die Polizei rund 1.400 Menschen in Gewahrsam genommen. Kommentatoren fürchten die Ausweitung des Konflikts.
Staat gießt Öl ins Feuer
Wedomosti glaubt, dass das harte Vorgehen der Behörden zu einer landesweiten Konfrontation zwischen Bürgern und Staat führen könnte:
„Die unangemessen brutale Auflösung der Aktion bestätigt nur aufs Neue, dass prinzipiell auf ein gewaltsames Szenario und dessen Beibehaltung unter allen Umständen gesetzt wird. ... Doch die Brutalität verleiht dem Konflikt, der ein lokales Moskauer Thema hätte bleiben können, auch eine neue Dimension. Die Gewalt und Allmacht der Hardliner, sowie die Schutzlosigkeit der Bürger vor der Willkür der Exekutive - das ist ein Thema, das potenziell viel breiter ist als eine Nichtzulassung der Opposition zu hauptstädtischen Wahlen. Der harte Kurs, der eine Ausweitung der Unzufriedenheit verhindern soll, kann gerade zu deren Verbreitung über Moskau hinaus führen.“
Russland droht ein Bürgerkrieg
Die Stimmung in Russland ist vorrevolutionär, meint der Historiker Andrei Subow auf Obosrewatel:
„Jetzt kann ich sagen, dass wir an der Schwelle einer Revolution stehen, in der man Blut mit Blut und Gewalt mit Gewalt beantwortet. Wenn diese Schwelle überschritten wird, beginnt ein echter Bürgerkrieg, den ich von ganzem Herzen nicht will. Könnte es eine Alternative zu einer solchen Revolution geben? Ja natürlich. Aber nur unter der Bedingung, dass die Machthaber von der dummen Unterdrückung des Protests zu umfassenden Reformen übergehen und nicht auf halbem Weg stehen bleiben, so wie das Nikolai II. 1910/11 oder auch schon davor gemacht hatte. ... Wenn das so läuft, wird sich der Staat demokratisieren, eine Umverteilung der Güter wird die Einheit der Gesellschaft wiederherstellen und dann kann sich das Land friedlich entwickeln.“
Opposition spricht nicht die Massen an
Die Parole 'Russland ohne Putin' reicht nicht, um echten innenpolitischen Wandel herbeizuführen, kritisiert The Independent die Strategie der Kreml-Gegner:
„Die Realeinkommen der Russen sind in den vergangenen Jahren stetig gesunken, gleichzeitig sparte der Staat. In der Folge nahm das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Regierung ab. Das hätte es der radikalen Opposition ermöglichen sollen, attraktiver zu werden, was aber bisher nicht passiert ist. Teil des Problems ist, dass die Opposition nicht in der Lage war, die Sorgen der breiteren Öffentlichkeit zu thematisieren und zu instrumentalisieren, wie etwa niedrige Lebensstandards oder die unbeliebte Pensionsreform. Stattdessen setzt die Opposition auf Parolen, die ihre treuesten Unterstützer ansprechen. Dabei geht es grob gesagt um ein 'Russland ohne Putin'. Und das zu einer Zeit, in der Putin immer noch relativ beliebt ist.“
Bürger durchschauen das kranke System
Die Massenverhaftungen der jüngsten Zeit zeigen die wachsende Verunsicherung der russischen Führung, ist Politiken überzeugt:
„Was nach Stärke aussehen könnte, ist in Wirklichkeit Ausdruck des Gegenteils: Putin ist geschwächt und fürchtet sein Volk immer mehr. ... Die Unzufriedenheit mit der Putin-Führung wird nunmehr weder durch die Furcht vor Repressalien oder Morden an Oppositionellen, noch die Festnahmen der vergangenen Tage unterdrückt. ... Putins sinkende Popularität belegen auch Meinungsumfragen. ... Die Russen haben nämlich begonnen, Putin und sein krankes System zu durchschauen. Man versteht die Nervosität der Führung und ihren Unwillen, dem Volk zu gestatten, an der Gestaltung der Politik des eigenen Landes teilzuhaben. Es könnte sie die Macht kosten.“
Warum der Kreml Demokratie wagen sollte
Wedomosti skizziert, wie die Staatsmacht sich ohne Imageverlust aus der zu eskalieren drohenden Situation herausmanövrieren könnte:
„Der Kreml müsste zum einen die Hardliner demonstrativ für ihre Dienste loben, sie aber zugleich sanft von den Steuerrudern der Hauptstadtverwaltung entfernen. ... Dies wird kein Zeichen von Schwäche sein, sondern eine Demonstration politischer Weisheit und Großmuts. Schließlich ist es Zeit damit aufzuhören, sich selbst und die Umwelt mit Weltuntergangsszenarien beim Entstehen einer Oppositionsfraktion in der Moskauer Stadtduma zu verschrecken, da deren Abgeordnete dann unweigerlich den FSB und die Kremlverwaltung unterminieren würden. Nur dies allein wäre geeignet, die Protestwut und die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation der Konfrontation im Moskauer Stadtzentrum deutlich zu dämpfen.“
Moskau will Duckmäuser in den Parlamenten
Boris Wischnewski, Oppositionsabgeordneter der Partei Jabloko im Sankt Petersburger Stadtparlament, erklärt in Nowaja Gazeta, warum der Staatsapparat keine kritischen Parlamentarier in Moskaus Stadtrat sehen möchte:
„Das Nicht-Hineinlassen der Opposition in die Moskauer Stadt-Duma ist kein Ausdruck der Angst der Stadtoberen, man könne sie dabei stören, sich aus dem Haushalt zu bedienen. ... Sie fürchten, dass die Bürger eine politische Vertretung und legale Verteidiger ihrer Rechte bekommen. Sie fürchten das Aufbrechen der 'Informationsblockade', in der die außerparlamentarische Opposition gehalten wird - denn es ist schwieriger, die Arbeit einer parlamentarischen Opposition totzuschweigen. Sie fürchten die Zerstörung der schon über Jahre zur Gewohnheit gewordenen Atmosphäre der Unterwürfigkeit, in der die Abgeordneten folgsam für alles stimmen, was die Stadtverwaltung ihnen vorlegt.“
Die Maskerade ist vorbei
Russlands Machthaber können nun ihre Masken komplett fallen lassen, schreibt die Politologin Liliya Shevtsova auf Facebook, zitiert von Dnevnik:
„Die Ereignisse rund um die Moskauer Stadtparlamentswahlen haben gezeigt, dass die vom Kreml auf die Imitation von Rechtsstaatlichkeit aufgebaute Regierungsweise obsolet ist. … Die Strukturen und Organisationen, die geschaffen wurden, um dem Despotismus einen zivilisierten Anstrich zu verleihen, sind überflüssig geworden - von den Wahlkommissionen über das Moskauer Parlament bis hin zum Menschenrechtsrat beim Präsidenten. Was sollen sie jetzt tun? In der neuen Situation werden sie nicht mehr gebraucht, denn die Maskerade ist vorbei. Die neue Situation erfordert Eindeutigkeit und Klarheit. Schluss mit dem Postmodernismus!“
Repression statt Dialog
Auf Druck der Opposition reagiert die Regierung mit Gegendruck, beobachtet Kaleva:
„Der Druck auf Kandidaten der Opposition und die Einmischung bei der Aufstellung von Kandidaten für die Regionalwahl zeigen, dass es unter der Oberfläche brodelt. Die Herrschenden wollen nicht das Risiko eingehen, dass auch Kandidaten der Opposition gewählt werden. Beunruhigend ist auch, dass die Regierung von Präsident Wladimir Putin nicht auf Dialog setzt, sondern ihre Macht stärkt und die Bemühungen der Opposition Einfluss zu nehmen, immer wieder behindert. … Wer auf eine demokratische Entwicklung in Russland gehofft hat, wird vorerst enttäuscht sein, denn ein schneller Wandel ist nicht in Sicht.“
Eine tonangebende Minderheit
Der Moskauer Soziologieprofessor Grigori Judin argumentiert auf seinem Blog bei Echo Moskwy gegen die Behauptung, die aktuellen Proteste - 15.000 Menschen in einer Agglomeration von 15 Millionen - seien nur ein Tropfen auf den heißen Stein:
„Dieses Regime hat über Jahre eine Entpolitisierung betrieben. Deren Preis ist jedoch, dass bei Wahlen kleine Gruppen großes Gewicht erhalten. Wenn diese Gruppen noch dazu gut organisiert sind, wird dieser Effekt zusätzlich verstärkt. Und deshalb mögen die Wahlen zwar den meisten Moskauern schnuppe sein und das Rammstein-Konzert mehr Menschen anlocken - doch das Ergebnis der Wahlen entscheidet keineswegs die Mehrheit, sondern eine Minderheit. Diejenigen, die heute in Moskau auf die Straße gehen, und die Moskauer, die sie dort repräsentieren, sind eine Gruppe mit funktionierender interner Kommunikation und der Fähigkeit, Strategien umzusetzen.“
Putins Partei wähnt sich in falscher Sicherheit
Die Proteste in Russland sind für De Volkskrant ein Beweis dafür, dass Putin falschliegt, wenn er das Ende des westlichen Liberalismus vorhersagt:
„Immer mehr Russen haben genug von der Korruption, der seit fünf Jahren sinkenden Kaufkraft und der zunehmenden Kluft zum Westen. Diese Distanz sieht Putin als eine Art Impfschutz gegen den demokratischen Virus, der bei den Nachbarn zu Aufständen gegen die Machthaber führte. ... Die Regierung hat auch den Vorteil, dass sie die Medien großteils unter Kontrolle hat. Außerdem verteilt das Vereinigte Russland - oder die 'Partei der Macht', wie sie in Russland heißt - überall die Jobs und lukrative Gefallen. ... Aber als sehr attraktives politisches Modell kann man das nicht bezeichnen und sicher nicht als Beweis für die Behauptung, dass der Liberalismus am Ende sei. Eher als Beweis für das Gegenteil.“
Warum der Kreml rot sieht
Alexej Wenediktow, Chefredakteur von Echo Moskwy sieht in einem Interview mehrere Motive für die Repressionen:
„Ich denke, es gab einige Vorfälle, die die Staatsmacht stark frustriert haben: Das waren im Herbst die Wahlen in Chakassien und Chabarowsk, bei denen die Kandidaten der herrschenden Partei gegen Personen verloren haben, deren Sieg mehr oder weniger zufällig anmutete. ... Das heißt, bei diesen Wahlen wurde der Protest bereits im Abstimmungsergebnis sichtbar, und daraus zog man Schlüsse. Außerdem sieht unser Staat gut, was 'Gelbwesten' sind: friedliche Proteste, die in endlosen Unruhen münden. ... Noch dazu wissen wir: Die Suche nach einem Nachfolger [für Putin] läuft. Der Moskauer Bürgermeister gehört dazu, er ist einer der wenigen, der weder zur Petersburger Gruppierung [Putins engem Zirkel] noch zu den Hardlinern gehört. ... Die nichtsystemische Opposition in das gesetzgebende Organ der Hauptstadt einziehen zu lassen, wurde da für absolut untragbar befunden.“
Schreckgespenst Maidan
Moskaus Machthaber schrecken vor nichts zurück, um einen russischen Maidan zu verhindern, meint Publizist Witalij Portnikow in Obosrewatel:
„Der Erfolg des ukrainischen Maidans 2004 und 2013 bis 2014 liegt nicht nur an der Bereitschaft der Bürger, gegen Wahlfälschungen und die Ablehnung einer europäischen Integration durch die Führung zu protestieren. ... Er war auch dadurch begründet, dass die Opposition im Parlament des Landes vertreten war und sich an den Verhandlungen mit den Behörden beteiligen konnte. ... In Russland gibt es nichts Vergleichbares. … Von einer Vertretung in der Staatsduma wagen hochrangige Politiker mit alternativen Ansichten in den vergangenen Jahren nicht einmal zu träumen. ... In dieser Situation ist es natürlich das Wichtigste für das Regime, das Entstehen einer unabhängigen politischen Vertretung zu verhindern.“
Schlagstöcke schaffen keine Stabilität
The Times muss angesichts der Nachrichten aus Moskau an die Proteste in Hongkong denken:
„Die Botschaft ist in beiden Städten die gleiche: Wer für die Demokratie auf die Straße geht, wird barsch behandelt, damit mutige Beispiele nicht zum Vorbild werden. ... Der Kreml befürchtet, dass, wenn er nicht sofort entschlossen und mit Härte reagiert, sich der Ungehorsam ausweiten wird. Die Zukunft Russlands und Putins sind ungewiss. Es wird nur noch wenige genehmigte Demonstrationen geben. Aber Unterdrückung ist kein Garant für politische Stabilität, wie die meisten Russen wissen. Nur der Kreml glaubt, dass sich der Ärger auf unbestimmte Zeit fernhalten lässt. Hongkong beweist das Gegenteil.“
Die Jugend kuscht nicht mehr
Die neuen Proteste in Russland stellen Putin vor ein teuflisches Dilemma, analysiert De Telegraaf:
„Viele Russen haben genug von der Korruption, der Unterdrückung politischer Gegner, der Rechtsungleichheit und der unfreien Presse. Bisher spielte der Kreml mit Erfolg die Karte der Verschwörungstheorie. Revolten wie die von 2014 auf dem Kiewer Maidanplatz wurden nach dieser Darstellung vom Ausland inszeniert. Aber die Psyche und die Wünsche der jungen Russen sind durch soziale Medien und Auslandsreisen verändert. Das will der Kreml offenbar nicht einsehen. Die alte, sklavische Generation, die sich noch an den Terror der Sowjetunion erinnert, schrumpft. Die russische Jugend hat offenbar die Angst verloren. Muss man nun ihren Forderungen nachgeben? Das wäre Öl aufs Feuer. Repressionen? Das war bisher Putins Taktik.“
Dieses Barometer sollte man beobachten
Es gibt gute Gründe, die Ereignisse in Russland genau zu verfolgen, findet Ilta-Sanomat:
„Die Regionalwahlen scheinen auf den ersten Blick nicht besonders interessant, ja nicht einmal ein wichtiges Ereignis zu sein. … Doch es sieht danach aus, dass sie diesmal ein außergewöhnlich spannendes Barometer für Russlands Entwicklung sind. … Interessant ist unter anderem, dass die Regierungspartei Einiges Russland keinen eigenen Kandidaten für die Stadtverordnetenversammlung in Moskau aufgestellt hat. Dies zeigt eindeutig, wie unbeliebt Einiges Russland ist und es ist ein Beleg für den Täuschungsversuch: Die vom Kreml unterstützten Kandidaten treten nun als scheinbar unabhängige Kandidaten an. … Ein Teil der russischen Opposition glaubt bereits, dass dies der Anfang vom Ende der herrschenden Eliten ist.“
Favoriten werden aussortiert
Der Politologe Alexander Schmelew sieht in einem von newsru.com übernommenen Facebook-Post eine neue Dimension von Wahlmanipulationen erreicht:
„Früher dienten sie dazu, das Resultat von 'Einiges Russland' oder seiner Kandidaten zu verbessern - die so oder so gewonnen hätten, aber eben nicht so hoch, wie sich das der Kreml wünschte. ... Die gegenwärtigen Wahlen zur Stadtduma sind einmalig, weil faktisch in allen Wahlkreisen die absehbaren Wahlsieger nicht zugelassen werden. ... Wir haben also ein alternatives Team für dieses Organ, das bereitsteht und dabei weitaus mehr Unterstützung genießt als das offizielle. In dieser Situation funktioniert das traditionelle 'Wenn nicht Putin, wer dann?' nicht mehr. Weil es hier Politiker gibt, die schon lange in ihren Wahlkreisen aktiv sind und vom Volk unterstützt werden - und dort unbekannte Dödel, die man an ihrer Stelle zu Abgeordneten machen möchte.“
Der Wind hat sich gedreht
Der Kreml fährt mit der Unterdrückung der Opposition einen riskanten Kurs, kommentiert das Handelsblatt:
„Eine Schlappe in der Hauptstadt wollte sich der Kreml nicht leisten. Die jüngste Wahl in Istanbul beim Verbündeten Erdoğan diente als warnendes Beispiel für die mögliche Erosion der Macht. Doch ist der nahezu vollständige Ausschluss aller Oppositionellen in Moskau ein gefährliches Spiel. Er eint die Opposition und facht die Unzufriedenheit weiter an. Trotz des verschärften Demonstrationsrechts gehen vor allem junge Menschen auf die Straße. Die Proteste zeigen: Der Wind hat sich gedreht. Er weht Putin rauer ins Gesicht. Und der Kremlchef muss aufpassen, dass er mit zu viel Härte nicht einen Orkan entfacht.“