Welche Folgen hat das Trump-Selenskyj-Telefonat?
Nachdem das Protokoll des folgenschweren Telefongesprächs zwischen Donald Trump und Wolodymyr Selenskyj veröffentlicht wurde, stehen der US-amerikanische und der ukrainische Präsident in ihren Ländern unter Beschuss. Wie sich das auf die bilateralen und internationalen Beziehungen auswirkt, analysieren Kommentatoren aus verschiedenen Blickwinkeln.
US-Präsident wird Bogen um die Ukraine machen
Trump wird sich aus dem Donbass-Konflikt wohl erstmal raushalten, glaubt Gazeta.ru:
„Trump tut wohl gut daran, in nächster Zeit keine besondere Aktivität in mit Kiew verbundenen Fragen zu zeigen. Denn was immer er nun sagt oder tut, werden die mit 'Impeachment'-Schreien in Rage geratenen Demokraten gegen den Präsidenten auslegen. ... Seinerseits hat Trump Selenskyj diskret dorthin delegiert, wo dieser offensichtlich nicht hindelegiert werden wollte, nämlich zu Wladimir Putin. Trump äußerte die Hoffnung und den Wunsch, dass die Präsidenten der Ukraine und Russlands sich treffen, alles untereinander absprechen und, wie sich Trump ausdrückte, 'euer Problem lösen'. Also: 'euer' russisch-ukrainisches Problem und nicht 'unser amerikanisches'.“
Gute Beziehungen zu USA werden halten
Die bilateralen Beziehungen sollten nicht allein von zwei Persönlichkeiten abhängen, meint Historiker Wolodymyr Dubowyk, Leiter des Zentrums für Internationale Studien an der Odessa-Universität, in Ukrajinska Prawda:
„Die Ukraine ist an einer Fortsetzung der Zusammenarbeit interessiert. Ein großer und einflussreicher Teil des US-Establishments und der US-Regierung ebenfalls. Unsere Beziehungen sind mehr als eine Beziehung zu Trump, es ist eine Beziehung zum ganzen Land. Präsident Trump wird es nun mit Sicherheit nicht wagen, die Ukraine weiter unter Druck zu setzen, zumindest nicht öffentlich. ... Daher wird die Ukrainepolitik in guten Händen derer bleiben, die die Unterstützung der Ukraine für eine wichtige Sache halten, die im Einklang mit den amerikanischen Interessen steht.“
Amerika ist kein Vorbild mehr
Die USA haben ihre weltweite Vorbildfunktion in Sachen Rechtsstaatlichkeit endgültig verloren, urteilt die Historikerin Anne Applebaum in Gazeta Wyborcza:
„Fast 30 Jahre lang hat man im Westen und in Amerika über Gerechtigkeit, Gerichte und Demokratie geredet. Viel Zeit und Geld wurde in Justizworkshops und Seminare über Rechtsstaatlichkeit gesteckt. Und jetzt stellt sich heraus, dass die Kritiker, Zyniker, autoritären Herrscher und korrupten Politiker Recht behalten, die sich die Gesetze zu ihrem eigenen Vorteil zurechtbiegen. Amerika ist kein Vorbild mehr: Aus rechtsstaatlicher Perspektive ist der Staat eine Katastrophe. Der Präsident versuchte monatelang, den ukrainischen Präsidenten davon zu überzeugen, zu Operationen im sowjetischen Stil zurückzukehren, die Justiz zu politisieren und die Staatsanwaltschaft unter Druck zu setzen.“
Der Präsident laviert nur herum
Das Internetportal strana.ua analysiert Selenskyjs Äußerungen in dem Telefonat:
„Es fällt auf, dass Selenskyj jede These von Trump aufgreift und ausführlich kommentiert. Darüber hinaus mit völlig zustimmendem Unterton. ... Und manchmal war Selenskyj zu freundlich, ja geradezu unterwürfig, griff jeden Gedanken seines Gesprächspartners auf, nannte Trump sogar seinen 'großartigen Lehrer'. ... Doch vieles von dem, was Selenskyj Trump versprochen hatte, ist nicht geschehen. ... Und es sieht auch so aus, als hörte Selenskyj nicht auf Trumps Rat. ... Deshalb war wohl auch das für den 1. September anvisierte Treffen in Polen geplatzt und deswegen gibt es auch noch keinen offiziellen Besuchstermin für Selenskyj in Washington.“
Selenskyj sollte schweigen
Selenskyj muss aufpassen, dass ihm die Sache nicht schadet, meint Polityka:
„Trump interessiert die Wahl und eine zweite Amtszeit, das ist das einzige, wofür er kämpft und wofür er viel opfern würde, und falls nötig, auch die Integrität eines anderen Landes. ... Was kümmert ihn schon die Ukraine, dieses schwache Land in Europa? ... Selenskyj ist - anders als Trump - kein erfahrener Spieler, sondern ein Neuling. Gestern noch war er Schauspieler. Der Wahlsieg hat ihn verblüfft, und wenn ihn Trump persönlich anruft, glaubt er sogar, dass er Einfluss auf den Lauf der ganz großen Politik hat und auf Augenhöhe spielt. Die wichtigen Leute, glaubt er, stehen hinter ihm. Er redet sich um Kopf und Kragen, weil er die Regeln diplomatischer Gespräche nicht kennt. Er erzählt, welch ein Vorbild Trump für ihn ist, welch ein Freund Amerikas und des US-Präsidenten er ist.“
Für Trump existiert die Ukraine nicht
Der ukrainische Journalist Alexej Solomin schätzt in einem Radiointerview für Echo Moskwy die Bedeutung der Ukraine für den US-Präsidenten als nicht sehr hoch ein:
„Selenskyj ist erst seit Kurzem Präsident. ... Aber wenn es so weit kommt, dass in Folge seines Telefonats ein Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Trump aufgenommen wird - dann geht Selenskyj in die Weltgeschichte ein. ... Ich denke, ginge es nach Trumps Willen, hätte er die Ukraine-Frage längst begraben, denn meiner Meinung nach existiert die Ukraine für ihn nicht. Ihm ist es äußerst angenehm, es mit Wladimir Putin zu tun zu haben.“