EuGH: Hassrede muss gesucht und gelöscht werden
Der Europäische Gerichtshof nimmt Online-Dienste wie Facebook stärker in die Pflicht: Die Unternehmen können laut dem Urteil von nationalen Gerichten gezwungen werden, nicht nur rechtswidrige Kommentare zu löschen, sondern auch weltweit aktiv nach "wortgleichen" sowie unter bestimmten Umständen auch "sinngleichen" Inhalten zu suchen und diese zu entfernen. Das richtige Werkzeug gegen Hassrede?
Prinzip Verantwortung gestärkt
Die Süddeutsche Zeitung lobt das Urteil als sehr weitgehend und realitätsnah:
„Sogar gegen eine Pflicht zur weltweiten Löschung hat der EuGH nichts einzuwenden. Damit stärkt er das Prinzip Verantwortung, das erst seit einigen Jahren Konturen bekommt. Früher haben sich die Plattformen auf ihre angeblich neutrale Rolle als technische Dienstleister herausgeredet. Doch längst ist klar geworden, dass sich Beschimpfungen und Hetzreden nur eindämmen lassen, wenn man die Betreiber sozialer Medien stärker in die Pflicht nimmt.“
Wichtiger Schritt gegen Einschüchterung
Besonders eine Gruppe wird vom Urteil des EuGH profitieren, meint Der Standard:
„Sehr häufig sind Frauen das Ziel virtueller Hass-Attacken. Diese verletzen und traumatisieren und führen dazu, dass sich viele Frauen den öffentlichen Diskurs gar nicht mehr 'antun' wollen. Sie ziehen sich zurück, bleiben passiv, mischen sich nicht ein. Und posten lieber Fotos vom letzten Sonnenuntergang, der Katze und dem letzten Candlelight-Dinner. Das ist eine Form von 'Silencing', einem gezielten Zum-Schweigen-Bringen 'unbequemer' oder 'aufmüpfiger' Frauen, das mit europäischen Werten ebenso wenig vereinbar ist. Facebook spielte hier bis dato keine ruhmreiche Rolle.“
Urteil gefährdet die Meinungsfreiheit
Keine Freude mit der EuGH-Entscheidung hat hingegen Financial Times:
„Das Gericht argumentiert, dass Online-Plattformen beim Entfernen von beleidigenden Inhalten automatisierte Filtersysteme als Hilfe einsetzen könnten. Die Schaffung und der Betrieb solcher Technologien sind teuer. Das begünstigt finanzstarke Big-Tech-Unternehmen. Dazu kommt, dass die Definition 'sinngleich' vage ist. Angesichts des zunehmenden Drucks der Regulierungsbehörden dürften Online-Plattformen den Begriff breiter interpretieren als bisher. ... Politiker, Aufsichtsbehörden und Gerichte sollten sich vor schlecht geplanten Eingriffen hüten, die mehr Schaden als Nutzen anrichten können.“
Auf dem Weg in die präventive Zensur
Auch Avvenire hat Zweifel daran, ob das Urteil des EuGH das Internet wirklich besser macht:
„Die Dinge sind nicht so einfach, wie sie scheinen. Denn die einzige Möglichkeit, die Facebook hat, um die Menge der Inhalte, die jede Minute im sozialen Netz veröffentlicht wird, im Voraus zu überwachen, ist die Einführung automatischer Filter. Aber im Moment gibt es noch keine künstliche Intelligenz, die in der Lage ist, 'illegale Inhalte' von solchen zu unterscheiden, die diese zitieren, um sie zu stigmatisieren. So wie sie noch nicht in der Lage ist, Ironie, geschweige denn Dialekte zu verstehen. Das wahrscheinlichste Ergebnis wird ein Zunehmen der 'präventiven Zensur' sein, die potenziell jeden betreffen kann.“