Findet Johnson den Weg aus der Brexit-Sackgasse?
Weniger als vier Wochen vor dem Brexit hat der britische Premier Boris Johnson Vorschläge gemacht, um einen EU-Austritt ohne Vertrag zu verhindern. Der umstrittene Backstop fiele demnach weg. Nordirland solle bestimmte EU-Regeln weiter erfüllen. Unvermeidbare Zollkontrollen an der inneririschen Grenze müssten technisch gelöst werden. Die Presse diskutiert, welche Chancen der Kompromiss hat.
Jetzt kommt Bewegung in die Sache
Dass jetzt, anders als im vergangenen Sommer, ein Kompromiss zum Backstop möglich sein könnte, mutmaßt Der Standard:
„In der Sache hat sich im Prinzip nichts geändert, in Großbritannien hingegen innenpolitisch alles. May ist Geschichte. Ihr Nachfolger Boris Johnson vergrößerte das Chaos noch. Ihm traut man zu, den Brexit ohne Vertrag durchzuziehen, was allen maximal schaden würde. Johnson konnte bisher kein schlüssiges Konzept vorlegen, wie er den Stolperstein Backstop, die Garantie für offene Grenzen in Irland, wegräumen will. Aber die EU-27 sagen nun nicht mehr, dass das Thema 'unverhandelbar' sei. Daran müsse 'noch viel gearbeitet werden', heißt es nun. Klingt schon fast wie ein Kompromiss in letzter Minute statt Verlängerung Nummer vier.“
Nordiren könnten sich von Briten abwenden
Johnsons Plan, der Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland vorsieht, könnte zu einer Wiedervereinigung Irlands führen, warnt The Times:
„Selbst wenn Brüssel nachgibt, wird es weiterhin problematisch sein, die Zustimmung Nordirlands für eine solche Veränderung zu bekommen. Die Unterstützung für die Wiedervereinigung mit Irland nimmt zu, auch unter Unionisten. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass 51 Prozent ein geeintes Irland befürworten. Das Karfreitagsabkommen von 1998 schreibt vor, dass die Regierung in Nordirland eine Volksabstimmung durchführen muss, wenn es wahrscheinlich ist, dass eine Mehrheit für die Wiedervereinigung mit Irland eintritt. … Wenn Boris Johnson nun ohne breite Zustimmung innerhalb Nordirlands vorgeht, könnte er dafür sorgen, dass dieser Zeitpunkt früher als gedacht kommt.“
Das Wohlergehen der Nation ist Johnson egal
Boris Johnsons jüngsten Vorschlag zum Brexit hält Dagens Nyheter für reinen Schwindel:
„Johnson scheint das Wohlergehen der Nation egal zu sein. Sein Hauptziel sind Neuwahlen und diese will er mit populistischen Tiraden gegen das Parlament, das Establishment und die EU-Bürokraten gewinnen, die den vom Volk so geliebten Brexit sabotieren. Ein zweites Referendum zur EU-Mitgliedschaft brächte viele Probleme, doch ein schlimmeres Chaos als jetzt kann man sich kaum vorstellen. Die Briten sollten jedenfalls die Gelegenheit haben, sich noch einmal zu äußern, nachdem sie bessere Einsicht in die Konsequenzen eines Brexit hatten.“
Kompromiss in Reichweite
Ernstzunehmende Zugeständnisse erkennt The Irish Times in Johnsons Vorschlag:
„Wenn es sich tatsächlich um ein 'allerletztes Angebot' von Seiten Londons handelt, wie es von Downing-Street-Quellen im Voraus hinausposaunt wurde, wird es mit ziemlicher Sicherheit vom EU-Verhandlungsteam und von der irischen Regierung abgelehnt werden. Doch wenn es ein Ausgangspunkt für detaillierte Verhandlungen ist, besteht eine kleine Chance, dass der Vorschlag als Grundlage für ein Abkommen dienen könnte. ... Es ist klar, dass Boris Johnson und die [nordirische Unionistenpartei] DUP einen bedeutenden Schritt gemacht haben. Sie erkennen an, dass Nordirland mindestens vier Jahre lang Teil des EU-Binnenmarktes bleiben sollte und es somit eine Grenze in der Irischen See geben wird.“
Nichts als fromme Wünsche
Keine realistischen Lösungsvorschläge kann hingegen Helsingin Sanomat in Johnsons neuem Angebot ausmachen:
„In der Praxis wäre das von Johnson angebotene Modell chaotisch und würde eine Änderung der EU-Zollregeln verlangen. Auch Grenzkontrollen wären auf der irischen Insel wieder nötig. Johnson wischt das Problem einfach beiseite, indem er erklärt, es könne mit neuen technischen Regelungen gelöst werden. Solche 'technischen Regelungen' gibt es aber nicht und sie sind auch nicht einmal in Vorbereitung, obwohl es bis zum Austritt nur noch drei Wochen sind. Die praktischen Lösungen im Vorschlag sind nur fromme Wünsche: Die Probleme ließen sich lösen, wenn man es nur richtig versuche. Die Haltung der Regierung ist eigenartig: als ob Großbritannien bei den Austrittsverhandlungen im Vorteil wäre und der EU nun großzügig Zugeständnisse anböte.“
EU sollte hart bleiben
Boris Johnsons Vorschläge zur Zukunft Nordirlands sind keine wirklichen Alternativen, urteilt Der Bund, und rät der EU, hart zu bleiben:
„Einiges ist technisch nicht machbar, bleibt vage oder erfüllt wichtige Kriterien nicht, um für die europäischen Partner überhaupt infrage zu kommen. So ist nicht klar, wie das Karfreitagsabkommen und der labile Frieden in Nordirland bewahrt werden können. Und der EU-Binnenmarkt hätte zwischen dem Mitglied Irland und dem britischen Nordirland ein unkontrolliertes Einfallstor. Ein Punkt, an dem man sich treffen könnte, ist nicht in Sicht. Boris Johnson hat zu Hause ohnehin keine Mehrheit für einen Deal, und bei den europäischen Partnern hat er das wenige Vertrauen verspielt. Weshalb sollte man auch dem britischen Trump-Imitator einen Gefallen tun?“
Sturheit bringt nur Nachteile
Die EU sollte sich den Vorschlag zumindest sehr genau anschauen, rät wiederum der Ökonom David Cayla in Le Figaro:
„Die Europäer gehen sich selbst in die Falle: Zu Theresa Mays Zeiten wiederholten sie, dass kein anderer Deal möglich ist, und jetzt müssen sie Zugeständnisse machen, wenn sie den 'No Deal' vermeiden wollen. Sie hätten kleinere Zugeständnisse machen können, als das Projekt das erste Mal im Parlament durchfiel. Dieses Mal sollten sie wohl nicht einfach alles zurückweisen. ... Johnsons Vorschlag zeichnet aus, dass er neue Ideen enthält, die es beiden Seiten erlauben könnten, sich auf ein Projekt zu verständigen, das auf beide Seiten Rücksicht nimmt.“